Ein gigantisches Ungetüm namens "Sissi" frisst sich gegenwärtig durch den Fels am Fuß des Schweizer Gotthard-Massivs. Die 3.000 Tonnen schwere und 400 Meter lange Bohrmaschine ist beim Bau des Gotthard-Basistunnels im Einsatz, der nach seiner bis 2020 geplanten Fertigstellung der längste Eisenbahntunnel der Welt sein wird. Jeden Tag fräst "Sissi" 25 bis 30 Meter härtestes Gestein aus dem Berg – eine Leistung, von der die Tunnelkonstrukteure des 19. Jahrhunderts nicht einmal träumen konnten. Als 1857 mit dem Bau einer Eisenbahnstrecke durch das Mont-Cenis-Massiv zwischen Savoyen (Frankreich) und dem Piemont (Italien) begonnen wird, schaffen die Mineure anfangs einen täglichen Stollenvortrieb von gerade einem Meter.
Muskelkraft und Schwarzpulver
Seit der Erfindung der Eisenbahn zwei Jahrzehnte zuvor boomt in ganz Europa der Ausbau von Fernstrecken. Um die Alpen nicht mehr wie noch zu Goethes Zeiten in Postkutschen überqueren zu müssen, plant Italien eine Schnellzug-Verbindung zwischen Rom, Turin und Paris. Dazu muss zwischen den Orten Modane und Bardonecchia eine mehr als zwölf Kilometer lange Röhre durch die Westalpen getrieben werden. Für das beim damaligen Stand der Technik höchst abenteuerliches Vorhaben wird eine Bauzeit von 25 Jahren veranschlagt. Mit Handbohrern, Hammer und Meißel sowie gefährlich-unberechenbaren Schwarzpulver-Sprengungen machen sich die Tunnelbauer von beiden Seiten des Mont-Cenis-Massivs aus ans Werk. Doch vier Jahre nach Baubeginn können die Arbeiten erheblich beschleunigt werden.
Meisterleistung ohne GPS-Technik
Der italienische Ingenieur Germano Sommeiller hatte die ersten pressluftbetriebenen Bohrmaschinen entwickelt, die nun unter seiner Leitung beim Mont-Cenis-Tunnel zum Einsatz kommen. So gelingt bereits 13 Jahre nach Grabungsbeginn der historische Tunnel-Durchstich. Jubelstürme hallen durch den Berg, als am 25. Dezember 1870 die Mineur-Trupps aus Italien und Frankreich 1.600 Meter unter dem Gipfel des Col de Fréjus zielgenau aufeinander treffen. Ohne GPS-Technik eine bewundernswerte Meisterleistung, die aber auch durch Maschinenunfälle, Sprengungen und herabstürzende Felsbrocken das Leben vieler Bergarbeiter gekostet hat. Noch ein knappes Jahr dauert es, bis im September 1871 der Zugbetrieb auf der Strecke Paris – Turin durch den damals weltweit längsten Eisenbahntunnel aufgenommen werden kann.
Stand: 25.12.10