London, 7. Juli 2005: Der morgendliche Berufsverkehr hat begonnen. Am Tag zuvor haben in der britischen Hauptstadt Zehntausende die Vergabe der Olympischen Spiele 2012 gefeiert. Kurz vor sieben Uhr treffen vier junge Männer auf dem Parkplatz des Bahnhofs von Luton ein. Überwachungskameras dokumentieren ihren Weg in die Innenstadt. Die Männer nehmen die Vorortbahn nach London und betreten kurz vor 8.30 Uhr den U-Bahn-Knotenpunkt King's Cross. Ohne Abschiedsgesten brechen sie auf. Drei von ihnen besteigen unterschiedliche U-Bahnen, der vierte fährt mit einem Doppeldecker-Bus. Zwischen 8.50 Uhr und 9.50 Uhr werden die Fahrzeuge von Explosionen zerrissen. Die vier Männer haben sich mit Bomben, die sie in ihren Rücksäcken versteckt hatten, in die Luft gesprengt. Insgesamt kommen 56 Menschen ums Leben, rund 700 werden verletzt.
Ein Jahr nach den Madrider Anschlägen
Zunächst ist von einem Unfall die Rede. Doch bald steht fest: Es ist der erste islamistische Selbstmord-Anschlag in Westeuropa. Denn: Beim Attentat auf Madrider Vorortzüge im Jahr zuvor waren die islamistischen Attentäter nach ihrer Tat geflohen. Wie Spanien hat sich auch die britische Regierung am Krieg der USA im Irak beteiligt und ist dadurch ins Visier von Al-Qaida geraten. Zum Zeitpunkt des Anschlages in London leitet der britische Premier Tony Blair den G8-Gipfel in Schottland. Dort verurteilt er die Tat - umrahmt von den Staatschefs der weltgrößten Industriestaaten: "Dies ist kein Angriff auf eine Nation, sondern auf alle Nationen und auf die zivilisierte Nation überall auf der Welt."
Ohne direkten Kontakt zu Al-Qaida
Die Rucksack-Bomber entpuppen sich als sogenannte Homegrown Terrorists ("Hausgemachte Terroristen"). Die vier jungen Muslime mit britischen Pässen sind entwurzelte Einwandererkinder der zweiten Generation, vereint im diffusen Hass auf den Westen und einem religiös verbrämten Rachebedürfnis. Ihr Kopf ist Mohammed Sidique Khan, ein Lehrer aus Leeds. Seine Terrorzelle mit den drei Komplizen aus Mittelengland entstand spontan, von den Sicherheitskräften unbemerkt und ohne direkten Kontakt zu Al-Qaida. Sie war aber infiziert von der Ideologie des Terrornetzwerks. "Ein Schlag ins Gesicht des tyrannischen und arroganten Kreuzritterlandes Großbritannien", heißt es in einem später entdeckten Bekennervideo über die Detonationen in London. "Die Anschläge waren ein Schluck aus dem Glas, aus dem die Muslime getrunken haben."Die selbsternannten Gotteskrieger von London finden bald Nachahmer. Zwei Wochen später versuchen nach Polizeiangaben vier Männer die Anschlagserie von Anfang Juli fortzusetzen. Weil bei den in Rucksäcken abgestellten Bomben nur die Zünder detonieren, gibt es keine Toten und Verletzten. Ein Jahr später planen junge Libanesen unmittelbar nach der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland einen ähnlichen Anschlag: Nur defekte Zünder verhindern im Juli 2006 eine Katastrophe in Regionalzügen nach Dortmund und Koblenz.
Stand: 07.07.10