In der Kölner Innenstadt entsteht 1989 eine Art Forum: Der Künstler und ehemalige Lehrer Walter Herrmann errichtet an einem Brunnen in der Einkaufsstraße Schildergasse eine selbst gebastelte "Klagemauer zur Wohnungsnot" - eine Konstruktion aus Holzlatten, Bindfäden und Pappkarten, die von Passanten beschriftet werden können. Herrmann war nach einem Streit mit seinem Vermieter obdachlos geworden. Mehrmals wird die "Klagemauer" von der Polizei geräumt und entsteht immer wieder neu. Nach Ablauf des UN-Ultimatums gegen den Irak versammelt sich am 16. Januar 1991 aus Protest gegen den bevorstehenden Zweiten Golfkrieg eine große Menschenmenge vor dem Kölner Dom. Auch Herrmann ist dabei und baut dort seine Installation auf. Sie wandelt sich nun zur "Klagemauer für den Frieden". Auf den beschrifteten Pappkartons stehen Botschaften wie "Play golf at home", "Das erste Opfer eines Krieges ist immer die Wahrheit" und "Stellt euch vor, es ist Krieg und keiner kommt zurück".
"Weder hässlich noch unwürdig"
Im Spätsommer 1991 richtet sich Herrmann dauerhaft ein. Er befestigt Schnüre und Karten zwischen zwei zum Dom gehörenden und einem städtischen Laternenpfahl. Am Westportal des Doms baut Herrmann eine kleine Hütte, in der er übernachtet. Abends bekommt er Besuch von anderen Obdachlosen. Während sich Dombaumeister Arnold Wolff über die "Schmuddelecke" ärgert, stößt die Klagemauer international auf positive Resonanz: Nicht nur viele Passanten füllen Friedenskärtchen aus, sondern auch Persönlichkeiten wie Abbé Pierre, Lew Kopelew, Ernesto Cardenal und der Dalai Lama. Die Stadt Köln und das Domkapitel - als Rechtsvertreter des Doms - wollen hingegen die "Klagemauer" räumen lassen, es gehe um den Erhalt der Kathedrale. Die Kirche hat bis zwei Meter vor dem Dom Hausrecht, der Rest der sogenannte Domplatte ist städtischer Boden. Die Gerichte werden eingeschaltet. Herrmann bekommt vielfache Unterstützung: Unterschriften werden gesammelt. Die Gemeinde der Nikolaikirche in Leipzig schreibt an das Domkapitel. Eine Universitätsprofessorin aus dem US-Bundesstaat Missouri schickt einen Brief: "Die Mauer stört nicht, sie ist weder hässlich noch unwürdig, vor dem Dom zu stehen." Auch der Bund der Deutschen Katholischen Jugend im Erzbistum Köln "plädiert im Streit um die Klagemauer am Dom vehement für deren Erhaltung."
Mit Aachener Friedenspreis ausgezeichnet
Die Stadt Köln und das Domkapitel setzen sich schließlich vor Gericht durch. Sie lassen den Platz am 15. Oktober 1996 räumen. Herrmann erklärt allerdings: "Das ist keine Sache, die so schnell erledigt ist." Schon im Dezember 1996 ist Herrmann wieder auf der Domplatte: mit einer mobilen "Klagemauer" in Gestalt eines hölzernen "Martinspferdes", das mit Pappschildern behängt ist. Ein juristischer Dreh sorgt für einen Waffenstillstand mit der Stadt: Herrmann darf seine "Klagemauer" nun stundenweise auf städtischem Grund aufbauen - weil sie rechtlich als Dauerdemonstration gilt. 1998 wird Herrmann mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet.
Provokanter Protest
Doch die "Klagemauer" sorgt weiter für Ärger. Ab 2004 wird auf den Pappkarten immer mehr der palästinensisch-israelische Konflikt thematisiert. Kritiker werfen Herrmann vor, einseitig Partei für die Palästinenser zu ergreifen und Antisemitismus zu schüren. Einen Höhepunkt erreicht die Auseinandersetzung im Januar 2010, als eine Karikatur zu sehen ist, die einen Mann mit Davidstern beim Verspeisen eines Palästinenser-Jungen zeigt. Herrmann entfernt das Plakat erst nach massiven Protesten. Im Dezember 2010 fordern ihn Oberbürgermeister Jürgen Roters (SPD), Ratsfraktionen, die Kölner Synagogengemeinde sowie Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche in einer Resolution auf, alle weiteren "menschen- und völkerverachtenden Installationen umgehend zu entfernen". Was als Forum freier Kommunikation und Mahnung zum Frieden begonnen habe, nähre nun "in geschichtsblinder Einseitigkeit antiisraelische Ressentiments". Trotz der Kritik ist die "Klagemauer" bis heute auf der Domplatte präsent.
Stand: 16.01.2011
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Freitag gegen 17.40 Uhr und am Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist in den vier Wochen nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.