Einen gedruckten "Stern" schaut er ungern an, denn kein Foto kann er mehr austauschen, keinen Satz umschreiben. Henri Nannen, von 1948 bis 1980 Chefredakteur der Illustrierten und bis 1983 ihr Herausgeber, ist ein Perfektionist, ein Arbeitstier, vor Mut, Ehrgeiz und Kraft strotzend. "Ich mache eigentlich nichts, von dem ich nicht glaube, dass ich es kann und dass ich es sogar ein bisschen besser kann", so Nannen über sich selbst. Herbert Riehl-Heyse, für kurze Zeit Nachfolger Nannens als Chefredakteur, nennt ihn "eine Art Hans Albers des deutschen Journalismus, sehr unerschrocken, sehr selbstbewusst, sehr mächtig". "Sir Henri" nennen viele Weggefährten den hochgewachsenen, stets stilvoll auftretenden Mann. Seine Mitarbeiter treibt der Vollblutjournalist Nannen regelmäßig an ihre Grenzen. "Ich möchte ihn ermorden und dann an seiner Bahre weinen", sagte der langjährige Stern-Redakteur Günter Dahl einmal. Der "Stern" ist Nannens Lebenswerk. Der "Musikdampfer", wie er ihn nennt, ist die am meisten gelesene Illustrierte der deutschen Nachkriegszeit. 1,9 Millionen Exemplare werden in der 70er Jahren Woche für Woche gedruckt.
Der Musikdampfer "Stern" auf politischem Kurs
Henri Nannen wird am 25. Dezember 1913 in Emden als Sohn eines Polizeibeamten geboren. Das Studium der Kunstgeschichte ab 1934 finanziert er sich als Kriegsberichterstatter. Nach dem Krieg erhält er in Hannover eine der begehrten Zeitungslizenzen von den Briten, zunächst für das Jugendblatt "Zickzack". Daraus entsteht der "Stern". Nannen erinnert sich: "Ich hatte immer irgendwo im Kopf, ein Magazin oder eine Illustrierte zu machen. So etwas wie einen Stern der Hoffnung. Stern wäre ein guter Titel: einsilbig, deklinierbar und positiv besetzt." Verleger bleibt Nannen nur kurze Zeit, dann verkauft er seinen Anteil an den finanzstärkeren Gerd Bucerius.
Am 1. August 1948 erscheint der erste "Stern": Auf dem Titel träumt Hildegard Knef mit geschlossenen Augen im Heu. Bei Nannen findet das pralle Leben von der ersten Ausgabe an auf dem Titelbild statt. Mit schönen Damen, gern unverhüllt, bestreitet er den Kampf am Kiosk und so verschiedene Frauen wie Inge Meysel und Alice Schwarzer ziehen deswegen später vor Gericht. Nicht die Intellektuellen hat Nannen im Visier, sondern Lieschen und Otto Müller. Bald bringt der Chefredakteur seinen Unterhaltungsdampfer auf politischen Kurs und stellt erfahrene Politikreporter ein. 1962 fragt der "Stern": "Brennt in der Hölle wirklich ein Feuer?", und erzürnt den Vatikan. 1971, in einer Zeit als das noch strafbar ist, bekennen 374 Frauen: "Ich habe abgetrieben". 1973 sammelt Nannen 22 Millionen D-Mark für die Opfer einer Dürrekatastrophe in Äthiopien.
"Nannen sagte, was er wollte, und man tat es"
Die Illustrierte mischt sich ein in die Politik der Nachkriegsrepublik "mit heute kaum noch vorstellbarer Wucht", so Herbert Riehl-Heyse. Nannen wirbt früh für eine Anerkennung der Oder/Neiße-Grenze und unterstützt die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt. Viele Jahre bleibt Henri Nannen der Übervater des "Stern", geliebt, gehasst und gefürchtet. Die Journalistin Carola Heldt: "Eine Zusammenarbeit gab es eigentlich nicht. Nannen sagte, was er wollte, und man tat es." Nach 32 Jahren als Chefredakteur zieht er sich 1980 nach Ablauf des Vertrags zurück, bleibt aber Herausgeber. Als die Kunst für ihn längst wichtiger ist - er hegt den Traum, eine Kunsthalle in seiner Heimatstadt Emden zu eröffnen -, präsentiert der "Stern" im April 1983 den Abdruck der Hitler-Tagebücher als "größten journalistischen Coup der Nachkriegszeit". Sie sind gefälscht und der "Stern" erholt sich nie von dieser Blamage. Nannen hatte der "unkommentierten und unrelativierten Veröffentlichung vehement widersprochen", so ein interner Bericht. Nannen jedoch sagt: "Ich kann diesen Freispruch nicht akzeptieren. ... Hätte ich meinen Vorstandsposten unter Protest niedergelegt, wäre die Veröffentlichung unterblieben. Mit dem Vorwurf, hier politisch und journalistisch versagt zu haben, werde ich leben müssen."
Jährlich 100.000 Besucher in der "Kunsthalle Henri Nannen"
Die Kunsthalle Emden wird am 3. Oktober 1986 eröffnet, Nannen hatte insgesamt rund 14,3 Millionen D-Mark zur Kunsthalle beigesteuert: Baukosten, Stiftungskapital und seine Sammlung expressionistischer Kunstwerke. Gemeinsam mit seiner dritten Frau Eske leitet er die "Kunsthalle Henri Nannen" mit großem Erfolg: Vier bis fünf Ausstellungen finden statt und locken jährlich rund 100.000 Besucher an. Henri Nannen stirbt am 13. Oktober 1996 in Hannover an den Folgen verschiedener Krebsoperationen.
Stand: 13.10.2011
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.05 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 13. Oktober 2011 ebenfalls an Henri Nannen. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.