Tag für Tag bilden sich im Winter 1964 Besucherschlangen vor dem Moskauer Puschkin-Museum. Mitten im Kalten Krieg bestaunen mehr als 100.000 Sowjetbürger die bunten Bilder einer Künstlerin aus den USA. Kindlich gemalte Bilder mit nostalgischen Motiven aus der Vergangenheit Neuenglands: spielende Kinder im Schnee, Männer bei der Heuernte, Frauen am Waschtag.
Sie erzählen von der Liebe zur Natur, zur Heimat und zur Familie, von einer heilen Welt in einem guten Amerika. Verblüfft entdecken die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang, dass der verteufelte Klassenfeind offenbar auch eine Seele hat. "Babuschka Moses" taufen sie die drei Jahre zuvor gestorbene Malerin, eine zierliche alte Dame mit Dutt, die nie eine Kunstschule besuchte, erst im hohen Alter zu malen begann und daheim in Amerika als Grandma Moses zur Legende wurde.
Amerika, das es so nie gab
Dabei greift Anna Mary Robertson Moses nur zum Pinsel, um niemandem zur Last zu fallen. "Wenn ich nicht zu malen angefangen hätte, dann hätte ich Hühner gezüchtet", erzählt Amerikas Lieblings-Oma. 1860 "inmitten grüner Wiesen und ungerodeter Wälder auf einer Farm im Staate New York geboren", erlebt Anna Mary eine glückliche Kindheit, "frei von Mühen und Sorgen". Sie wird Dienstmagd und heiratet mit 27 Jahren den Milchfarmer Samuel Moses. Im Lauf ihres langen, kargen Lebens als Bauersfrau bringt sie zehn Kinder zur Welt, nur fünf überleben die ersten Jahre. Als nach dem Tod ihres Mannes 1927 der jüngste Sohn mit seiner Frau den Hof übernimmt, entdeckt Anna Mary eine alte Kindheitsliebe wieder: das Malen.
Mit 75 Jahren hat sie ihren Stil und ihr Thema gefunden. Es sind Motive einer verlorenen Welt, der Kindheit auf dem Lande, zur friedlichen Idylle verklärt. Ganz naiv malt Anna Mary Moses heimelige Szenen eines Amerika, das es so nie gab. Als schlichte "Sonntagsmalerei" qualifiziert der arrivierte Kunstbetrieb solche Amateur-Ambitionen ab. Nicht so ein New Yorker Industrieller, der Anna Marys Bilder 1939 in einem Kramladen ihres Heimatortes Hoosick Falls entdeckt. Er nimmt sie mit und zeigt sie seinem Freund Otto Kallir, dem New Yorker Galeristen europäischer Maler wie Schiele, Kokoschka und Klimt.
Die Künstlerin, die keine sein will
Kallir ist begeistert vom Ausdruck der Werke und der Leuchtkraft ihrer Farben. Kritikern gegenüber, die die Bilder als reinen Kitsch abtun, vergleicht er Anna Marys Bedeutung für die moderne US-Kunst mit Edward Hopper oder Grant Wood. 1940 stellt das Museum of Modern Art (MoMA) drei Bilder von Anna Mary Moses aus. Ein Jahr später erlebt die Autodidaktin ihre erste Einzelausstellung. Hunderte folgen, die einen wahren Hype auslösen nach Bildern von "Grandma Moses", wie Anna Mary in den Zeitungen getauft wird. Massenhaft finden ihre lieblichen Motive Verbreitung, etwa auf Tapeten und Stoffe gedruckt oder auf unzähligen Weihnachtskarten.
Im Amerika der 40er und 50er Jahre sind Grandma Moses’ Nostalgie-Szenen allgegenwärtig. Die greise Künstlerin mit der markanten Nickelbrille, die sich selbst nicht als Künstlerin sieht, wird mit Preisen überhäuft und erhält zwei Ehrendoktortitel. Sie selbst interessiert der Rummel um ihre Person kaum. "Sie bleibt, was sie immer war: geerdet und bodenständig, auch das ein Teil ihres Mythos", schreibt die Galeristin Hildegard Bachert, die Grandma Moses seit den Anfängen bei Otto Kallir begleitet hat. Rund 1.500 Bilder malt Anna Mary in ihrer außergewöhnlichen Spätkarriere, beim letzten ist sie bereits über 100 Jahre alt. Wenige Monate später, am 13. Dezember 1961, legt Grandma Moses in Hoosick Falls den Pinsel endgültig aus der Hand.
Stand: 13.12.2011
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