1875 hält der Begründer der Pathologie und Kommunalpolitiker der Deutschen Fortschrittspartei Rudolf Virchow vor dem Berliner Abgeordnetenhaus eine flammende Rede, in der er sich für die Feuerbestattung in der preußischen Reichshauptstadt starkmacht. Als Mediziner weiß Virchow, dass die giftigen Abfallprodukte des Verwesungsprozesses auf Friedhöfen für zahlreiche Seuchen und Epidemien verantwortlich sind – je größer die Stadt, desto größer die Gefahr.
"Dass die zunehmende Anhäufung von Verwesungsstätten, welche die großen Städte wie einen Kranz umgeben, das Erdreich mit unreinen Stoffen erfüllt, und weit und breit die Unwässer verunreinigt", lautet Virchows Plädoyer, "dass das kein Zustand ist, der sich mit der öffentlichen Gesundheit verträgt, liegt auf der Hand."
Einäscherung aus Platzmangel
Aber Berlin ist noch nicht reif für diese Einsicht. Zu sehr geistert die katholische Vorstellung von der leibhaftigen Auferstehung der Toten beim Jüngsten Gericht durch die Köpfe der Abgeordneten – auch wenn die sogenannten Krematisten in Deutschland heftig Werbung machen und ihre Idee in Feuerbestattungsvereinen und Organen wie "Die Flamme" oder "Phönix" propagieren. Das erste Krematorium auf deutschem Boden wird 1878 von Ernst II. von Sachsen-Gotha in der Hauptstadt seines Herzogtums, Gotha, in Betrieb genommen. Die zweite Einäscherungsstätte entsteht 13 Jahre später in Heidelberg.
In Preußen wird die Verbrennung von Leichen erst 1911 offiziell erlaubt. Am Totensonntag des darauf folgenden Jahres weihen die Stadtväter von Berlin, deren Bevölkerung sich seit der Reichsgründung 1871 mehr als verdoppelt hat, im nördlichen Arbeiterviertel Wedding ein Krematorium ein. Der im Stil einer Basilika entworfene Kuppelbau samt Trauerhalle und Kolumbarium zur Lagerung der Urnen wird auf dem "Wedding-Acker" errichtet: einem Friedhof, der wegen Überfüllung längst geschlossen ist.
Kultur aus der Asche
Am 28. November 1912 wird mit Johanna Ahrend aus Schöneberg der erste Leib den Flammen übergeben. In der Folge müssen sich Katholiken ohne priesterlichen Segen verbrennen lassen. Die evangelische Kirche stellt ihren Pfarrern zumindest frei, ob sie Gläubige in Berlin-Wedding auf ihrem letzten Weg begleiten. Die mangelnde Akzeptanz schlägt sich auch in der Liste der Eingeäscherten wieder: zumeist sind es Künstler, Schriftsteller und Professoren; kaum Arbeiter finden sich darunter.
Im Nationalsozialismus werden einige der Attentäter vom 20. Juli 1944 in Berlin-Wedding eingeäschert. 2002 wird das Krematorium stillgelegt, 2012 von zwei Filmemachern übernommen. Sie wollen es in ein Kulturzentrum mit Ateliers und Galerien verwandeln.
Stand: 28.11.2012
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.05 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 28. November 2012 ebenfalls an die erste Feuerbestattung in Berlin. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.