Der Einstieg in die ostwestfälische Seelenlandschaft wird einem nicht so leicht gemacht, gesteht Redakteurin Cordula Helmig-Walker, die vor 19 Jahren nach Bielefeld eingewandert ist. Doch wenn das geglückt ist, verliert sich auch schnell das Image der Stadt, langweilig zu sein, denn es gibt so wunderbare Ecken und schöne Plätze, dazu zählen der Siegfriedplatz und der Alte Markt.
Kein leichter Zugang zur ostwestfälischen Seele
Gleich vorweg gesagt, den bekannten Bielefeld-Spruch werden Sie bei mir nicht zu lesen bekommen – na, Sie wissen schon, welchen ich meine. Nein, ihn gibt es hier nicht, weil ich ihn einfach nicht mag und blöd finde und mich immer wundere, wenn selbst intelligente Bielefelder mit ihm kokettieren. Als ich mit Mann und zwei Monate alter Tochter vor 19 Jahren nach Bielefeld ging, ich hätte auch schreiben können, "auswanderte", fiel mir tatsächlich kaum etwas zu Bielefeld ein. Oetker, ja natürlich, Bethel-Briefmarken, kannte ich auch. Ich war nie dort gewesen, hatte nur gehört, drumherum gibt’s nicht viel. Aber: Gleich meine zweite Assoziation war, da sitzen doch die tollen Historiker! Ich habe Geschichte studiert, in Bonn und Münster, an zwei eher konservativen Universitäten. Die moderne, kritische, an sozialen Verhältnissen orientierte Geschichtsschreibung, das hörte man schon als Erstsemester, sitzt prominent in Bielefeld. Damit war mein Bielefeld-Bild ein positives. Und auch wenn mir der Einstieg in die ostwestfälische Seelenlandschaft nicht leicht gemacht wurde, ein Lächeln, ein netter Small Talk will hier hart erarbeitet sein, der Weg aus dem Rheinland nach Bielefeld hat sich tatsächlich gelohnt.
Als in der ersten Zeit unserer "Umsiedelung" die alten Freunde vorsichtig fragten, wie es denn so ist in Bielefeld, gerne mit einem mitleidigen Vibrato in der Stimme, dann lautete die Kurzform meiner Antwort: Man kann in der Altstadt das Kleinkind laufen lassen und findet immer einen Parkplatz. Als jemand, der aus Düsseldorf zugereist war, ein staunenswerter Zustand einer Großstadt. Und genau das ist es, was Bielefeld lebenswert macht: Es gibt alles, was eine Großstadt verspricht, und vieles von dem, was einer Großstadt fehlt: Übersicht, viel Natur, Platz und relativ entspanntes Autofahren.
Auf dem Wochenmarkt steht das Lebensgefühl im Mittelpunkt
In den 19 Jahren unseres Hierseins hat sich Bielefeld wie jede andere Stadt natürlich weiterentwickelt und verändert. Auch bei uns gibt es inzwischen so viele Cafés mit Außensitzplätzen, dass an einem schönen Sommertag eine Reise nach Italien gänzlich überflüssig erscheint. Mein Lieblingssitzplatz an diesem schönen Sommertag wäre der Siegfriedplatz. Er liegt im Westen der Stadt, die Universität ist nicht weit. Ein begehrtes Wohnviertel bei Familien wie Studenten, ein Szeneviertel mit Kneipen, witzigen Lädchen, die aus Berlin stammen könnten, und hübschen alten Häusern im Jugendstil. Auf diesem Siegfriedplatz ist zweimal in der Woche Wochenmarkt, mittwochs und freitags.
Das Besondere ist nicht das vielseitige Angebot der Stände und Händler, das Besondere ist die Atmosphäre auf diesem Markt: Es scheint, als stünde gar nicht so sehr der Einkauf im Mittelpunkt, sondern mehr ein Lebensgefühl. Na ja, der eine oder die andere arbeitet natürlich zielorientiert den Einkaufszettel ab, aber viele nehmen doch erst mal einen Espresso im Stehen, bevor sie an die Auswahl des Bio-Käses gehen. Meine Freundinnen und ich sitzen am liebsten auf den Bierbänken der Bürgerwache mit Blick auf die Reihen bunter Blumen und Stauden des Blumenhändlers Gees. Übrigens hockt der Bielefelder auch bei zehn Grad eingemummelt in Anorak und Decke auf’m "Siggi" und trinkt seinen Milchkaffee. Bielefeld ist überhaupt eine Stadt der Märkte. An jedem Tag gibt es irgendwo in einem oder mehreren Stadtteilen einen Markt, und an Stadtteilen sind wir wahrlich reich seit der kommunalen Gebietsreform.
Großstadt im Grünen
Wir leben recht mittig in der Stadt, doch das muss in Bielefeld nicht heißen, dass es laut und autoreich ist. Vom Haus aus nach links sind es zu Fuß zehn Minuten bis in die Fußgängerzone; nach rechts geht es den Hang hinauf in den Wald. Je nach Kondition braucht man fünf bis acht Minuten und landet oben – auf der Promenade.
Ein Wanderweg, der nach links bis zum Hermannsdenkmal in Detmold führt und nach rechts an der Sparrenburg endet. Ein Kamm, der bei guter Sicht einen wunderschönen Ausblick über die Stadt und in die Weite garantiert. Hier oben bin ich fast jeden Tag, um unseren Hund auszuführen. Und jedes Mal denke ich, wie schön ist es, so schnell in der Natur zu sein. Wenn Besuch kommt, Familie, Freunde, gehen wir einmal wenigstens in die "Altstadt". Viel, viel kleiner als die Düsseldorfer Altstadt ist sie, kein Kneipen-Eldorado und auch kein ehrwürdiges Bauwerke-Spalier à la Münster – unsere Altstadt ist unser Wohnzimmer. Samstags kommen auch die ostwestfälischen Nachbarn, da wird es etwas enger, aber in der Woche genießt der Bielefelder das ruhige, gelassene Treiben rund um den Alten Markt mit dem Theaterbau und der herrschaftlichen Lampe-Bank.
Dass Bielefeld 800 Jahre alt ist, lässt sich hier erahnen mit Blick auf die alten Giebel. Leider steht nur noch wenig Spätmittelalterliches, der Zweite Weltkrieg hat den großen Rest auf dem Gewissen. In der Bielefelder Altstadt – durch eine breite Straße auch räumlich scharf getrennt von der Neustadt – gibt es sie noch, die inhabergeführten Geschäfte. Und natürlich Cafés in ausreichender Zahl.
Bethel - wie draußen, nur anders
Es gibt einen Stadtteil in Bielefeld, der liegt nicht auf den touristischen Routen, dabei ist er so besonders und so bestimmend für die Stadt: Bethel. Angefangen hat es Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem einsamen Bauernhof, auf dem Epileptiker versorgt wurden. Eine kleine Anstalt, deren Leiter Friedrich von Bodelschwingh wurde. Heute hat Bethel eine eigene Buslinie. Die Krankenhäuser heißen Gilead, Gibeon und Mara; biblische Hausund Ortsnamen wie Nazareth, Sarepta und Zion stehen auf Straßenschildern. Bethel ist ein eigener Kosmos mit Postfiliale, Sparkasse und Supermärkten, hier leben Menschen in Wohngruppen und Heimen, sie arbeiten in Werkstätten oder können nicht arbeiten.
Aber: In Bethel leben Menschen mit und ohne Behinderung, sie sind Nachbarn, stehen hintereinander an der Supermarktkasse, helfen sich am Geldautomaten. Als unsere Töchter auf das Bethel-Gymnasium kamen, die von Bodelschwinghschen- Stiftungen unterhalten auch Schulen, war das eine unschätzbare Erfahrung: Es gibt Menschen, die sind anders, und in Bethel begegnet man ihnen. Wie überschrieb der Bielefelder Fotograf Veit Mette seine Fotoserie über eine Behinderteneinrichtung: "Drinnen ist wie draußen – nur anders."
Cordula Helmig-Walker wurde geboren und ist aufgewachsen in Wuppertal, studierte in Bonn und Münster, wohnte in Düsseldorf und lebt jetzt in Bielefeld. Keine schlechte Bilanz für ein NRW-Kind, findet sie. Nach einem Zeitungsvolontariat wechselte sie zum Radio und wurde Redakteurin im WDR-Studio Wuppertal. Heute arbeitet sie im WDR-Studio Bielefeld und lebt mit ihrem Mann, zwei Töchtern, Hund und Katze in Ostwestfalen.
Dieser Artikel erschien im Januar 2015 in der WDR PRINT.