Er hörte einen lauten Knall, da flogen auch schon Glassplitter durch das Schaufenster seines Büros. Steuerberater Ali Demir warf sich auf den Boden. Draußen auf der Straße hörte er Schreie, und als er hinaus lugte, sah er zwei mit Pistolen bewaffnete Männer. Noch wusste Demir nicht, was passiert war. Entweder, so dachte er, seien diese Männer Zivilpolizisten, oder sie waren Verbrecher und hatten mit dem zu tun, was dort draußen vor sich ging. Es war der 9. Juni 2004. Nur wenige Meter von Ali Demirs Büro entfernt, auf der Kölner Keupstraße, war soeben eine Nagelbombe explodiert.
Opfer wurden zu Verdächtigen
Als die Bewohner und Geschäftsinhaber der Keupstraße später von der Polizei vernommen wurden, schilderte Demir den Beamten seine Beobachtung. Doch sein Hinweis wurde offenbar nie weiter verfolgt. Statt dessen begannen die Ermittler, die geschockten Anwohner selber als Täter zu verdächtigen. "Die Behörden versuchten mit verschiedenen Mitteln, die Leute unter Druck zu setzen", erinnert sich Kioskbesitzer Mitat Özdemir. "Sie sagten, wenn Du mir keinen Namen nennen kannst, warst Du es selber", sie drängten Frauen, ihre geschiedenen Männer zu denunzieren.
"Die halten ja alle dicht"
"Wenn Sie heute jemanden auf dieser Straße auf den Nagelbombenanschlag ansprechen, will niemand mehr darüber reden", sagt Özdemir, der auch Vorsitzender der Interessengemeinschaft Keupstraße ist. Die Menschen seien enttäuscht, verunsichert, viele hätten sogar Angst vor einem weiteren Anschlag. "Zehn Jahre lang wurde den Bewohnern unterstellt, sie wüssten, wer die Täter sind", sagt Peter Bach von der Geschichtswerkstatt Mülheim, "Kölner Zeitungen schrieben Sätze wie "Die halten ja alle dicht'". Polizei, Verfassungsschutz und die Medien seien sich einig gewesen, dass es hier um einen Konflikt im türkisch-kurdischen Milieu gehe.
Türkische Geschäftsleute, Ur-Kölner und Studenten
Geschäftsmann Özdemir und der pensionierte Chemie-Betriebsrat Bach führen interessierte Gruppen gemeinsam durch die Keupstraße. Bach erzählt, wie diese bunte, von niedrigen Stadthäuschen gesäumte Straße als Wohn- und Einkaufsmeile für die Arbeiter der nahen Industriebetriebe im 19. Jahrhundert entstand. Und wie sich nach dem Stopp des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik und der Türkei 1973 die damals so genannten Gastarbeiter rund um die Keupstraße niederließen, "weil sich hier Netzwerke und wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten finden ließen".
Viele mussten bei Null anfangen
Heute prägen türkische Lebensmittelgeschäfte, Friseure und Schmuckläden das Straßenbild, einige der gediegenen Restaurants sind weit über die Grenzen Kölns hinaus bekannt. Dabei seien nur 40 Prozent der Bewohner der Keupstraße türkischstämmig, sagt Stadtgeschichtler Bach, die Übrigen: ältere Ur-Kölner und deutsche Studenten. Doch seit dem Nagelbombenanschlag sei die Welt in der Keupstraße eine andere, sagt Özdemir: "Die meisten Menschen hier mussten bei Null anfangen." Die Bombe, sagt Ali Demir, habe Vertrauen zerstört, sie sei auch ein Anschlag auf das friedliche Zusammenleben in der Straße gewesen.
Ignoranz auch nach Entdeckung des NSU
Am Abend sitzen Bach und Özdemir im Saal des Mülheimer Bezirksrathauses. Das Kölner NS-Dokumentationszentrum hat zu einer Podiumsdiskussion geladen: "Ein Jahr Auseinandersetzung mit dem NSU". Auf der Bühne sitzt Kemal Bozay, Politikwissenschaftler an der Uni Köln. Es habe bereits vor dem Anschlag deutliche Hinweise auf Aktivitäten der rechtsextremen NPD und DVU auch in der Keupstraße gegeben, sagt er - Plakate und Flyer, die sogar Verbindungen in die Neonaziszene Ostdeutschlands belegten. "Doch weder die Polizei noch die Medien haben solche Informationen aufgenommen", sagt Bozay. "Auch haben wir immer wieder nachgefragt, ob es neue Erkenntnisse über diese zwei beobachteten Personen gebe", Antworten hätten die Betroffenen nie bekommen. Bozay kritisiert vor allem die anhaltende Ignoranz der Polizei auch nach der Entdeckung des NSU. Keiner der Augenzeugen wie Ali Demir sei nochmal befragt worden, den traumatisierten Opfern des Anschlags werde bis heute jede Information über den Stand der Ermittlungen verwehrt. "Dabei war jedem klar: Das können nicht nur drei Personen sein. Aber wer ist da noch?" Unsicherheit und Angst breite sich aus.
Was wurde aus der Bombenwerkstatt?
"Wir beobachten die Neonaziszene seit Jahren", sagt Felix Hansen vom Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum (Apabiz) in Berlin. Auch das NSU-Trio sei den Apabiz-Leuten bekannt gewesen, seitdem 1998 dessen Bombenwerkstatt in einer Jenaer Garage entdeckt wurde. Oft habe man sich gefragt, "was aus denen geworden ist", aber keine Antworten bei den ermittelnden Behörden gefunden.
Mehr Verantwortung
"Warum erklärt sich in diesem Fall niemand für verantwortlich?", fragt Kemal Bozay. Journalist und Moderator des Abends, Albrecht Kieser, erinnert daran, dass auch der Berliner Verfassungsschutz kürzlich schnell noch brisante Akten schredderte, bevor es dort zu Untersuchungen kam. Die Öffentlichkeit müsse bei den Ermittlungen besser informiert werden, fordert Kemal Bozay, und es brauche einen "differenzierteren Feindbildtypus". Auch die Medien müssten mehr Verantwortung übernehmen - bei der Sorgfalt der Berichterstattung ebenso wie bei der Wortwahl.
"Nicht unter den Teppich kehren"
Ein Jahr nach der "Entdeckung" des NSU, die die zu Unrecht verdächtigten Bewohner der Keupstraße endlich freigesprochen hat, sei es nun eine Chance für die Stadt Köln, das Image dieser Straße wieder herzustellen, sagt Mitat Özdemir. "Man sollte nicht versuchen, alles unter den Teppich zu kehren, sondern besser unter dem Teppich sauber machen." Wenn die Menschen aber jetzt Angst haben, sei das "gefährlicher als alles andere. Denn wer Angst hat, zieht sich zurück." Erst so entstünden Parallelgesellschaften.