Der 93-Jährige hatte im vergangenen Jahr eingeräumt, ab Anfang 1942 im Konzentrationslager Auschwitz eingesetzt worden zu sein. Allerdings will er sich derzeit nicht zu den Vorwürfen äußern, erklärte sein Anwalt am Dienstag (17.02.2015) dem WDR. Zuvor hatte der Mann der Staatsanwaltschaft zufolge betont, dass er nicht an der Ermordung von KZ-Insassen mitgewirkt habe.
Tatvorwurf: Beihilfe zum Mord in 170.000 Fällen
Dem widersprechen die Ankläger. Sie gehen davon aus, dass er zwischen Januar 1943 und Juni 1944 an der Ermordung von 170.000 Menschen im KZ Auschwitz beteiligt gewesen sei und es billigend im Kauf genommen habe, "Teil der Tötungsmaschinerie zu sein, die diese Menschen nicht am Leben lässt", wie Staatsanwalt Ulrich Schepers im WDR sagte. Die Zahl von 170.000 Opfern sei angesichts der hohen Zahl der insgesamt in Auschwitz Ermordeten "relativ gering". Die Staatsanwaltschaft habe aber nach dem Prinzip "in dubio pro reo" (im Zweifel für den Angeklagten) nur die Opferzahlen zugrunde gelegt, die man ihm sicher zuordnen könne und die in die Zeit nach seinem 21. Geburtstag (Erwachsenenstrafrecht) gefallen sei. Das Landgericht Detmold muss jetzt entscheiden, ob die Anklage zugelassen wird.
Die Selektion an der Rampe überwacht
Nach Erkenntnissen der NRW-Zentralstelle für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen, die die Anklage am Wochenende bestätigt hatte, war der Angeklagte als Angehöriger des SS-Totenkopfsturmbanns Auschwitz unter anderem für die Bewachung des Stammlagers zuständig und habe ankommende Transporte und die Selektion bewacht. Allein in den Monaten Mai und Juni 1944 seien etwa 92 Transporte mit jüdischen Deportationsopfern aus Ungarn eingetroffen, nicht arbeitsfähige Menschen in die Gaskammer getrieben worden. Außerdem habe es an fast jedem Wochenende Massenerschießungen gegeben.
Demjanjuk-Prozess: Zäsur für NS-Prozesse
Die Zentralstelle ist bei der Staatsanwaltschaft Dortmund angesiedelt und hat mehrfach Ermittlungsverfahren gegen ehemalige SS-Leute durchgeführt. Insgesamt sind 20 Staatsanwaltschaften in zehn Bundesländern mit den Ermittlungen gegen frühere Wachleute befasst. Das liegt am sogenannten Demjanjuk-Prozess in München, bei dem 2011 zum ersten Mal ein ehemaliger SS-Mann verurteilt wurde, weil er Teil der Tötungsmaschinerie in einem KZ war. Das bedeutete eine Zäsur bei der Verfolgung von NS-Verbrechen.
Zu alt für einen Prozess?
Danach wurden viele Fälle wieder aufgerollt, so im Sommer 2014, als in einer bundesweiten Aktion Wohnungen ehemaliger SS-Angehöriger durchsucht wurden. Darunter war auch die des 93-Jährigen. Belastendes Material sei allerdings nicht gefunden worden, teilte das Landeskriminalamt damals mit. Er wage es zu bezweifeln, dass man seinem Mandanten konkrete Taten zuordnen könne, erklärte der Anwalt des 93-Jährigen aus Lage. Möglicherweise wird dem Mann aber wegen seines hohen Alters kein Prozess gemacht. Im vergangenen Jahr sind in Bayern und Niedersachsen mehrere ähnlich gelagerte Verfahren eingestellt worden, weil die Beschuldigten nicht mehr verhandlungsfähig waren. In NRW wurde im Januar 2014 der Prozess gegen einen ehemaligen Waffen-SS-Mann aus Hagen vorzeitig beendet, weil die Beweise nicht ausreichten. Die Staatsanwaltschaft ging zwar in die Revision, die Tat war dann aber bereits verjährt.
Höcker-Verfahren vor 25 Jahren
Vor gut 25 Jahren hatte es in Ostwestfalen bereits einen großen Prozess gegen einen ehemaligen SS-Mann gegeben, der am Massenmord in NS-Konzentrationslagern beteiligt war: Im Mai 1989 wurde Karl-Friedrich Höcker vom Landgericht Bielefeld zu vier Jahren Haft verurteilt - für seine Beteiligung an der Vergasung von Häftlingen im KZ Lublin-Majdanek. Höcker hatte 1943 und 1944 mindestens drei Tonnen des Giftgases Zyklon B beschafft.