Contergan-Medikament

Interview mit Pharmazeutin

"Man hätte einiges verhindern können"

Stand: 27.11.2006, 06:00 Uhr

War die Contergan-Katastrophe ein unvermeidbarer Unfall? Was führte schließlich zur Rücknahme des Medikaments vom Markt? Auch fünf Jahrzehnte später sind diese Fragen brisant. WDR.de stellte sie der Pharmazeutin Beate Kirk.

WDR.de: Wann gab es die ersten Erkenntnisse über die Gefahr, die von Contergan in der Schwangerschaft ausging?

Beate Kirk: Kinderärzten fiel auf, dass vermehrt Kinder mit verkürzten Gliedmaßen geboren wurden. Darüber wurde am Rande von Kinderärztekongressen im Jahr 1961 häufig gesprochen. Aber erst der Kinderarzt Widukind Lenz stellte den Zusammenhang mit Contergan her. Man hatte zuvor häufig an eine Folge des radioaktiven Niederschlags durch die damaligen Atombombenversuche gedacht. Lenz fand aber heraus, dass es die Häufung von Kindesmissbildungen in der DDR nicht gab. Er hat seine These Ende November 1961 auf einem Kongress öffentlich dargelegt.

WDR.de: War da Contergan nicht schon vom Markt genommen worden?

Kirk: Nein, das geschah etwa zehn Tage später. Lenz hatte aber schon vor seinem Vortrag mit dem Contergan-Entwickler Heinrich Mückter bei Grünenthal Kontakt aufgenommen und seinen Verdacht dargelegt. Mückter hielt sich sehr bedeckt. Daraufhin schrieb Lenz einen eingeschriebenen Brief an Grünenthal und machte gemeinsam mit dem Anwalt Karl-Hermann Schulte-Hillen eine Eingabe bei der nordrhein-westfälischen Gesundheitsbehörde in Düsseldorf. Schulte-Hillen war selbst Vater eines durch Contergan geschädigten Kindes. Auf diese Eingabe hin kam es am 24. November zu einem Gespräch bei der Gesundheitsbehörde in Düsseldorf.

Firmenvertreter von Grünenthal sagten dort, sie würden im Fall eines Verbots von Contergan das Land für den wirtschaftlichen Schaden zur Verantwortung ziehen. Daraufhin sah sich das Ministerium außerstande, etwas zu unternehmen. Schon am darauffolgenden Tag gab ein anonymer Informant, wahrscheinlich aus der Gesundheitsbehörde, an die Zeitung "Welt am Sonntag" die Information weiter, Grünenthal nehme Contergan vom Markt. Das war eine Falschmeldung, die auch umgehend dementiert wurde. Aber da stand die Meldung schon in der Ausgabe vom 26. November. Einen Tag später nahm Grünenthal Contergan tatsächlich vom Markt.

WDR.de: Das legt nahe, dass es ohne Falschmeldung zu diesem Zeitpunkt nicht zu einer Rücknahme gekommen wäre?

Kirk: Ja. Wenige Tage zuvor hatte sich Grünenthal ja eindeutig dagegen gesperrt. Der Zeitungsartikel hatte aber erstmals in einer breiten Öffentlichkeit den Zusammenhang zwischen Contergan und Missbildungen bei Neugeborenen hergestellt. Dadurch war das Medikament nicht mehr zu halten.

WDR.de: Gab es vorher schon Kritik an Contergan?

Kirk: Schon 1959 gab es erste Berichte, Thalidomid sei für Nervenschädigungen verantwortlich. Die Staatsanwaltschaft hat im späteren Prozess auch von vorsätzlichem Handeln gesprochen, weil diese nicht mehr gut zu machenden Nervenschäden bekannt waren, ohne dass Grünenthal reagierte. Contergan wurde im Sommer 1961 wegen dieser Nebenwirkung in mehreren Bundesländern verschreibungspflichtig. Damit wurde die Verantwortung im Grunde auf die Ärzte verschoben. Die Folge war ein Contergan-Tourismus, weil Patienten in Bundesländer fuhren, wo sie Contergan noch frei kaufen konnten.

WDR.de: Wie beurteilen sie die Reaktion auf die Nervenschäden?

Kirk: Man hätte damals meines Erachtens schon erkennen können und müssen, dass solche Nervenschäden als Nebenwirkungen bei einem Schlafmittel nicht akzeptabel sind. Sie waren ja unheilbar. Und für Schlaf-, Beruhigungs- und Schmerzmittel gab es genügend Alternativ-Präparate. Der Schaden stand in keinem vertretbaren Verhältnis zum Nutzen.

WDR.de: Grünenthal nennt den Fall Contergan auf der Firmen-Homepage "eine nicht absehbare Tragödie". Sehen Sie das anders?

Kirk: Von einer Tragödie kann man nur sprechen, wenn niemand schuld ist, wenn niemand etwas machen konnte. Aber wenn die Frima Grünenthal Contergan schon Anfang 1960 vom Markt genommen hätte, in angemessener Reaktion auf die Nervenschäden, dann hätte es auch wesentlich weniger missgebildete Kinder gegeben. Man hätte also einiges verhindern können.

WDR.de: Entsprachen die Tests, die mit Contergan gemacht wurden, dem damaligen Standard?

Kirk: Nur insofern, dass es keinen Standard gab. Es wurden schon die Tests gemacht, die auch in anderen Firmen üblich waren. Dabei wurde das Mittel auch recht schnell an Firmenangehörigen getestet. Es gab damals aber keinerlei Richtlinien zur Arzneimittelsicherheit. Deutschland war in dieser Frage europäisches Schlusslicht.

WDR.de: Warum kam es im jahrelangen Prozess um Contergan nie zu einem Urteil?

Beate Kirk: Zum einen drohte die Verjährung. Der Prozess wurde von den Angeklagten und ihren Anwälten bewusst in die Länge gezogen. Dann gab es ein Problem, dass bei ähnlichen Verfahren noch heute besteht: Auch wenn der Zusammenhang zwischen einem bestimmten Wirkstoff und einer bestimmten Folge im Grunde erwiesen ist, lässt er sich nur schwer zwingend und eindeutig beweisen.

WDR.de: Aber es gab keinen Freispruch mangels Beweisen?

Beate Kirk: Nein, niemand wurde freigesprochen. Das Verfahren wurde wegen "geringfügiger Schuld" eingestellt. Das Gericht billigte den Verantwortlichen zu, dass sie unter einem starken Gruppenzwang standen und die Einzelnen deshalb wenig individuelle Entscheidungsmöglichkeiten hatten. Schließlich wurden dem Staatsanwalt Josef Peter Havertz, der auf ein Urteil drängte, zwei weitere Staatsanwälte zur Seite gestellt, die auf ein Verfahrensende hinwirkten. Eine Rolle spielte dabei der Vergleich über die Entschädigung der Betroffenen. Dadurch entfiel der Druck, diese Entschädigungen durch ein Strafurteil zu erzwingen.

Das Gespräch führte Gregor Taxacher.