Neun Tage in New York
Tag 9: Es geht aufwärts
Stand: 21.09.2001, 17:15 Uhr
New York im Regen: Das Licht im Hotelzimmer flackert. Der Ventilator ächzt. Der Fernseher liefert nur noch Schneegestöber. Es wird Zeit, diesen Ort zu verlassen. Neun Tage New York sind genug. Erst recht in diesem Haus. Ich räume hiermit meinen Platz für die anreisenden Katastrophen-Touristen. Manhattan minus zwei Türme: Das macht sich gut auf jedem Urlaubsfoto.
Von Herbert Bopp
Zwei Tage nach dem Luftangriff auf das World Trade Center war ich hierher gekommen. Mit dem Zug, aus Kanada. Fliegen ging nicht. Der Luftraum über Nordamerika war gesperrt. Terroristen werfen lange Schatten. Diesmal war der Schatten besonders lang: Er reichte bis in die Wolken.
Ich war schon ein halbes Dutzend Mal zuvor in New York gewesen, als Tourist: Empire State Building, Central Park, World Trade Center. Big Apple eben. Schön war es jedes Mal. Schön schräg. New York eben. Dieser Besuch in Manhattan war anders als alles, was ich bisher erlebt hatte. Er war wie eine neuntägige Achterbahnfahrt über den Rummelplatz der Gefühle.
"Ein Rummelplatz der Gefühle"
Trauer: Ich musste schlucken, als mich ein kleiner Junge an der Tränenmauer fragte, ob ich ihm helfen könnte, seinen verschütteten Daddy zu finden. "Sie haben doch einen Pressepass", sagte der Kleine. "Damit kommen Sie doch überall rein."
Humor: Ich musste lachen, als mir Wendy vom Helferzentrum von einem Kerl erzählte, der ihr schöne Augen machte. Dieser Kerl sei aus Köln, sagte sie. Sie wisse das so genau, weil er ihr "Eau de Cologne" versprochen hatte. "Das heißt doch Wasser aus Köln, oder?".
Scham, Wut, Bewunderung,...
Scham: Ich bekam feuchte Augen, als ich sah, wie eine kleine Gruppe dunkelhäutiger Menschen am Union Square ganz leise und unauffällig ein Plakat mit der Aufschrift entrollte: "Nicht alle Araber sind Mörder". Kein Weißer gesellte sich zu der Gruppe. Ich auch nicht.
Wut: Ich habe mich über die New Yorker Behörden geärgert, die Hunderte von Journalisten aus aller Welt tagelang Schlange stehen ließen, bis sie endlich den Katastrophenpass bekamen, der ihnen den Zugang zu "Ground Zero" ermöglichte.
Bewunderung: Ich verspüre tiefen Respekt für Menschen wie Lester, einen mexikanischen Erdnusspflücker. Er war zwei Tage und Nächte mit dem Greyhound-Bus durch Amerika gereist, weil er am "Ground Zero" helfen wollte. Dort wurde er zurückgewiesen, weil er "kein Profi" ist. Dafür schmiert er jetzt Brötchen für die Profis. Und fühlt sich "glücklich, weil ich gebraucht werde."
...Überdruss und Dankbarkeit
Überdruss: Ich mag keine amerikanische Flagge mehr sehen. Für lange Zeit. Während der letzten neun Tage habe ich "Stars and Stripes" in jeder Variante erlebt: Auf Sonnenhüten und Regenschirmen, als Orangen-Gesteck und Plastikblumen-Teppich. Und als Bierdosen-Aufsatz für die "gefallenen Helden" der New Yorker Feuerwehr.
Dankbarkeit: Es stimmt nicht, dass Katastrophen den Menschen härter machen. Zumindest trifft das nicht auf New York zu. Mir ist seit meiner Ankunft vor neun Tagen eine Welle der Hilfsbereitschaft entgegen geschwappt, wie ich sie selten zuvor erlebt hatte. Ob Verkehrspolizistin oder Taxifahrer, Würstchenverkäufer oder Frühstücks-Café-Kellnerin: New Yorker wissen, wie man es dem Fremden nett macht.
New York geht es heute besser als vor neun Tagen. Es ist noch immer eine verwundete Stadt. Aber der Heilungsprozess hat begonnen. Die Dreckwolke über dem Trümmerberg am "Ground Zero" wird mit jedem Tag heller. Die Sirenen der Feuerwehren, der Polizei und der Ambulanzen scheinen an Penetranz verloren zu haben. Und die Kriminalitätsrate in Manhattan ist seit der WTC-Katastrophe um 32 Prozent zurückgegangen. Unfassbar: Eine Erfolgsbilanz.
New York fehlen die Touristen
Doch seit dem Terroranschlag auf das World Trade Center am Dienstag voriger Woche ist in New York nichts mehr wie es war. Das hatte es wohl noch nie gegeben: Wenige Stunden vor der Letterman-Aufzeichnung waren noch Freikarten zu haben. New York fehlen seit dem Luftangriff die Touristen. Am Broadway werden Tickets zu Schleuderpreisen verscherbelt. Und lachen mit Letterman wollen in diesen Tagen offensichtlich auch weniger als sonst.
"Tun Sie uns einen Gefallen", hatte die Platzanweiserin vor der Show in die wartende Menge gerufen, "klatschen Sie heute besonders heftig. Dave braucht das zur Zeit." Wohl wahr: Am vergangenen Montag, nach einer mehrtägigen Zwangspause, hatte es Letterman als erster der amerikanischen Star-Entertainer gewagt, wieder auf Sendung zu gehen. Es wurde eine denkwürdige Veranstaltung: CBS-Anchorman Dan Rather war zu Gast. Er brach in Tränen aus, als er vom WTC-Desaster sprach. Dave Letterman weinte mit.
NRW-Touristen: "Bitte kein Foto!"
Nicht so am Mittwochabend. Da war Dave schon fast wieder der Alte. Zwar verzichtete er auf seinen gewohnten Einstiegs-Monolog. Dafür gab's ein paar Witze vom Blatt: "Je mehr ihr lacht, desto mehr Jokes gibt's." - "Ganz wie Harald Schmidt", stellte ein Touristenpaar aus Dortmund fest. Von WDR.de interviewen lassen wollten sich die beiden NRW-Besucher nicht. Fotografieren lassen gleich gar nicht: "Die könnten ja in Deutschland sonst noch was von uns denken." Gefallen hat den Beiden die Letterman-Show "echt gut". Ein richtiger Profi eben, das müsse man ihm lassen.
Als Talkmaster musste sich Letterman am Mittwoch mit B-Prominenz begnügen: Matthew Broderick nahm Platz. Er tritt zurzeit in einem Broadway-Stück auf. "Es ist nichts verkehrt damit", warb der New Yorker Broderick, "in diesen Tagen ins Theater zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen."
Der Mann, der Bin Laden interviewte
Faszinierend dann der nächste Studiogast: ABC-Korrespondent John Miller. Er ist der letzte Journalist - und einer der ganz wenigen überhaupt - der Osama Bin Laden fürs Fernsehen interviewt hat. Auf dem Weg zu Bin Ladens verstecktem Camp sei ihm aufgefallen, erzählte Miller, in welch schlechtem Zustand die Zufahrt zum Haus des mutmaßlichen Drahtziehers der jüngsten Terroranschläge gewesen sei. Reporter Miller: "Dabei hat Bin Ladens Familie ihr Vermögen doch im Baugeschäft gemacht." Letterman zu John Miller: "Haben sie noch Kontakt mit dem Mann?". Miller: "Nein". Letterman: "Sie meinen, er hat Ihnen nicht seine Visitenkarte zugesteckt?"
Auch Tränen gab es wieder bei "America's Funniest Man" (CBS-Werbung). Doch diesmal war es nicht der Showmaster, der feuchte Augen bekam. Viele im Publikum ließen ihren Gefühlen freien Lauf, als "Odetta and The Harlem Boys Choir" "Amazing Grace" sangen. Irgendwann hatte es dann auch Paul Shaeffer erwischt: Der hippste aller hippen Bandleader rieb sich verschämt die Tränen aus dem Gesicht.