Bahnfahrt mit Revival-Effekt
Mit dem Amtrak nach New York
Stand: 09.09.2002, 14:23 Uhr
Getreidefelder zur Linken, Heuwiesen zur Rechten. Herbstblumen so weit das Auge reicht: an den Berghängen, in den Waldlichtungen. Phantastischer Wildwuchs an den Uferböschungen der Füsse und Seen entlang. Er, Sie, Es - wer immer diese Landschaft auch kreiert haben mag, muss Überstunden gemacht haben. So genieße ich dieses herrliche Stück Amerika.
Von Herbert Bopp
Der Amtrak Nr. 694 von Montréal/Kanada nach New York/USA ist rappelvoll. Zehn Stunden dauert die Fahrt. Genau so lange wie am 12. September vorigen Jahres. Auch damals war ich mit dem Amtrak von Montréal nach New York unterwegs gewesen. Nur: Damals konnte ich nicht anders. Der Luftraum über Nordamerika war nach den Terroranschlägen geschlossen. Auch für den Straßenverkehr blieben die Grenzübergänge vorübergehend zu. Blieb also nur noch die Bahn. Heute ist das anders: Wer von Kanada in die USA will, hat wieder die Wahl. Ich habe mich für die Bahn entschieden. Wegen des Revival-Effekts.
Den Härtetest bestanden
Die Reise verläuft weniger emotional als vor einem Jahr. Wer die Twin Towers live in Schutt und Asche erlebt hat, bekommt zwölf Monate später beim Anblick von Katastrophenfotos keine feuchten Augen mehr. Wer Zeuge wurde, wie Terroristen eine abgebrühte Stadt wie New York in die Knie zwangen, hat den Härtetest bestanden.
Links neben mir sitzt Marc, ein New Yorker Jeans-Verkäufer. Heute trägt Marc eine lindgrüne Gabardine-Hose mit Bügelfalten. Es ist schließlich Sonntag. In Montréal hat der gute Sohn seine kranke Mutter besucht. Jetzt ist er wieder auf dem Weg nach New York. Der Rückkehr in den Big Apple sieht er heute gelassenener entgegen als vor einem Jahr. Am 11. September 2001 saß Marc im selben Zug, mit dem selben Ziel. Nur die Gemütsverfassung war damals eine andere: "Ich hatte furchtbare Angst, nach Manhattan zurück zu kehren." Beim Frühstück in Montréal hatte Marc vom Einsturz der Twin Towers gehört. Eine Dreiviertelstunde später saß er im Zug nach New York. "Wer weiß", hatte er sich damals gedacht, "ob sie mich später noch über die Grenze lassen."
"Es herrschte ja Kriegszustand"
Die Bahnfahrt zog sich über fast 16 Stunden hin, sechs Stunden länger als geplant. Streckenweise schlich der Zug mit 35 Stundenkilometern durch Amerika. Vor jeder Brücke, vor jeder Unterführung wurde angehalten. Und jedesmal stieg ein Inspektor aus, um sich davon zu überzeugen, dass keine Bomben gelegt worden waren. "Es herrschte ja Kriegszustand", sagt Marc, der mit seinen 47 Jahren freilich nie im Krieg war. Morgens um eins sei der Zug dann endlich in Manhattan eingetroffen. Und wieder wurde Marc an kriegerische Zeiten erinnert: Militärs, Notärzte, Krankenwagen. Und dann der Gestank.
Ein Mal, ein einziges Mal, sei er im vergangenen Jahr an die Stelle gegangen, wo einst das World Trade Center stand. Dabei wohnt Marc gerade mal zwölf Straßen von Ground Zero entfernt. "Ich wollte mir den Anblick ohne Not nicht antun", sagt er. Als er dann vor dem höllischen Loch stand, über dem einst zwei der höchsten Wolkenkratzer der Welt thronten, habe er Tränen in den Augen gehabt. "Stell dir vor", sagt Marc, "ein New Yorker mit Tränen in den Augen!"
Grenzenloses Trauern? Von wegen!
8. September 2002, Rouses Point, Grenzübergang. Drei Einwanderungsbeamte entern den Zug. Sie sind überaus höflich, aber auch überaus bewaffnet. Geschossen wird nicht, dafür aber viel gestempelt. Und sehr viel gefragt. "Sie wollen also am 11. September auch dabei sein, wenn unsere Nation trauert?" mustert mich der Beamte. Ich: "Jawohl." Er, fast empört: "Aber Sie sind doch gar kein Amerikaner!". Von wegen grenzenloses Trauern.
In Ticeronda steigt Tamara zu. Tamara ist grösser als die meisten Frauen, die ich kenne. Vor allem aber ist sie gesprächig. Ihre Haut ist sehr schwarz, ihre Hose enganliegend. Nachdem sie gut ein halbes Dutzend Mal ihr Missfallen über den 11. September mit einem "Scheiß 9/11!" kund tut und Wert darauf legt, buchstabengetreu zitiert zu werden, wende ich mich wieder Marc zu. Von Tamara erfahre ich später, dass sie nach dem 11. September ihren Job verloren hatte. Sie arbeitete als Aushilfskellnerin im World Trade Center. Am Tag der Katastrophe hatte sie frei. Zwei ihrer besten Freundinnen starben.
"Stars and Stripes" am Baseball-Schläger
9/11-Altar im New Yorker Bahnhof
Ankunft in New York. Kurz vor Mitternacht rollt der Zug in den Bahnhof "Pennstation" ein. Erster Eindruck: Der bissige Gestank von verbrannter Chemie, der mir vor einem Jahr noch Tränen in die Augen getrieben hatte, ist weg. Dafür stinkt es wieder wie früher: Nach Müll und Mensch, nach Abgasen und nach allem, was eine Zwölf-Millionen-Stadt sonst noch zu bieten hat. Und auch die Fähnchenverkäufer sind noch da! Patriotismus kostet in New York seit dem 11. September richtig Geld. Die Stars and Stripes am Baseballschläger gibt's für 25 Dollar. Auf Wunsch in Halbmastposition.