"Der Tag versprach wunderschön zu werden ..."
WDR-Radioreporter Nehls erinnert sich
Stand: 06.09.2002, 15:17 Uhr
Thomas Nehls, ARD-Korrespondent in New York, war gerade auf dem Weg ins Büro, als seine Frau rief: "Das World Trade Center brennt!" Fünf Minuten später berichtete er live für WDR 2. Für WDR.de erinnerte sich der Journalist 2002 an die dramatischen Ereignisse.
Der Tag versprach wunderschön zu werden: Strahlend blauer Himmel, angenehme Temperaturen - und dann auch noch eine "ruhige Nachrichtenlage". Sie erlaubte mir am Morgen des 11.9. noch von zuhause mehrere Telefonate mit einzelnen ARD-Hörfunkredaktionen über zwei Kulturthemen zu führen. Als ich meiner Frau etwa viertel vor 9 Uhr einen Abschiedsgruß zurief, hielt sie sich gerade auf dem Balkon auf - im 35. Stockwerk eines Hochhauses an der 34. Straße in unmittelbarer Nähe des East River - mit freiem Blick in den Süden Manhattans.
Joe McCarthy nach dem Einsturz des 1. Turms
"Komm bitte zurück - es brennt im World Trade Center". Sie sagte es zunächst ohne größere Anspannung. Und als ich den schwarzen Rauch aus den oberen Stockwerken des Nordturms dringen sah, schossen auch mir naheliegende, wiewohl tragische Gründe durch den Kopf: Ein leichtfertiges Verhalten bei Reparaturarbeiten, die Explosion einer Gasleitung - eine halbe Minute später war im Stadt-TV-Kanal NY1 von der Möglichkeit eines bewusst oder unfreiwillig von der Route abgekommenen Kleinflugzeugs die Rede, das im Bezirk Staten Island gestartet sein könnte. Eben diese Mutmaßungen und Spekulationen habe ich in den ersten Berichten weitergegeben - um 8.56 Ortszeit, 14.56 MEZ erst einmal auf WDR 2, dann ohne Pause für die gesamte ARD.
"Komm' ins Studio!"
Die Skyline in Manhattan mit dem World Trade Center
Der Standort war stets unser 4 x 1,50 Meter kleiner Balkon, das "Übermittlungsinstrument" das Mobilteil unseres stationären Telefons. Handy-Verbindungen kamen nicht mehr zustande, selbst die Verständigung mit unserem nur drei Straßen entfernten ARD-Hörfunkstudio gelang nur noch per Fax. Korrespondentenkollege Carsten Vick konnte nicht wissen, wie und für wen ich beschäftigt war, also schrieb er geradezu flehend: "Komm ins Studio!"
Etwa zweieinhalb Stunden nach Beginn der Katastrophe kam ich im Studio an und berichtete Non-Stop weiter - auch für die TV-Ausgaben von ARD Aktuell und zahlreiche Dritte Fernsehprogramme, denn TV-Kollege Gerald Baars war zu Dreharbeiten in Kanada. Dass er wegen der Luftraum-Sperre 5.000 Kilometer per LKW zurücklegen musste, ahnte in diesem Moment niemand.
Die Stunden zählte niemand mehr
Im gemeinsamen Hörfunk- und Fernsehstudio hielt sich das Chaos am 11. September in Grenzen. Unaufhörliche Programmanfragen erfuhren ein abruptes Ende, als die Telefonanlage weitgehend ausfiel und nur noch Einzelanschlüsse funktionierten. Die TV-Producerin Annemarie Kammerländer vollbrachte wahre Meisterleistungen: Wie sie sich gleichzeitig auf den neuesten Kenntnisstand zu bringen vermochte, darüber mit Deutschland korrespondierte und mich zwischen Radio- und TV-Studio hin- und herdirigierte, ist mir auch noch ein Jahr nach der Katastrophe ein Rätsel geblieben. Kann es sein, dass uns eine besondere Wesensart geholfen hat? Denn mit immer größerer Belastung stellte sich eine stets steigende Gelassenheit ein - ein Gemisch aus der festen Absicht, allen Anforderungen gerecht werden zu wollen, dabei aber auch die Erkenntnis, Perfektion vermeiden zu müssen. "Was geht, das geht - einiges klappt vielleicht nicht", habe ich mir gesagt und taumelte förmlich zur nächsten Radio- und/oder Fernsehschaltung. Die Stunden zählte niemand mehr.
Der erste Augenzeugenbericht des Kameramanns
Und die Belastung, der das ARD-Fernsehteam um die Producerin Debbie Kraus am grausigen Ort des Geschehens ausgesetzt war, konnten wir im sicheren Studio sowieso nicht bemessen. Für die dramatischen Resultate seines lebensgefährlichen Einsatzes erhielt Joe McCarthy 2002 einen Deutschen Kamerapreis. Seine voller Erschöpfung abgegebene Schilderung, als er an jenem Tag staubbedeckt ins ARD-Studio zurückkehrte, war der erste Augenzeugenbericht, der die Radiohörer in Deutschland über die Situation am Ort der Tragödie selbst informierte.
9/11 - ein Jahr danach ist vieles anders
Ein Jahr danach ist vieles anders, aber längst nicht alles. Etwa jede dritte "Geschichte" über New York streift zumindest 9/11, wie jener Tag im September in Kurzform datiert ist. Kein Wirtschaftsbeitrag, keine politische Bestandsaufnahme, keine kulturelle Status-Quo-Beschreibung, in der dieses Datum fehlt. Es hält gleichermaßen her für Hochrechnungen auf die Zukunft wie für Rechtfertigungen möglicher Versäumnisse der Politiker bei der Rückschau in die Vergangenheit.
Die Terroranschläge auf Manhattans Wahrzeichen haben die ganze Welt verändert - sie beeinflussen das Handeln der Regierungen, das Verhalten der Menschen und auch die Berichterstattung der Medien weit über New York hinaus.