Kunstprojekt "2-3 Straßen"
Ein Jahr, ein Buch und 887 Autoren
Stand: 13.04.2011, 12:54 Uhr
78 Menschen durften ein Jahr lang mietfrei in Duisburg, Mülheim und Dortmund wohnen. Allerdings mussten sie an einem Buch mitzuschreiben. Mit frischem Wind sollten die neuen Mieter die Nachbarschaft verändern. Die Idee hatte der Künstler Jochen Gerz. Entstanden ist ein 3.000-Seiten-Wälzer, 2,1 Kilo schwer.
Von Katja Goebel
Rückblick auf das Jahr 2010: Das Ruhrgebiet ist Kulturhauptstadt und feiert sich 12 Monate lang selbst. Zum Beispiel mit ungewöhnlichen Projekten - wie dem des Künstlers Jochen Gerz. Der hatte die fixe Idee, 78 kreative Menschen aus aller Welt ins Ruhrgebiet einzuladen. Doch nicht nur für eine Stippvisite, sondern gleich für ein ganzes Jahr. Er besorgte ihnen kostenlosen Wohnraum in stinknormalen Straßen, mitten in Duisburg, Mülheim und Dortmund und stellte nur eine Bedingung: Die neuen Bewohner sollten schreiben - über sich und ihr Leben im Ruhrgebiet. Dieses Projekt mit dem bescheidenen Namen "2-3 Straßen" war am Ende nicht nur ein kreatives, sondern auch ein soziales Experiment. Was beobachten diese Menschen? Wie verändern sie mit ihrer Kreativität ihr Umfeld? Kann man auch andere Menschen zum Schreiben bewegen? Das Ergebnis klemmt nun zwischen zwei Buchdeckeln.
Ein Buch als Echtzeit-Doku
In einem Jahr sind 10.000 geschriebene Beiträge entstanden, die häufig von großer Spontanität geprägt sind. Die Verfasser mussten beim Schreiben ein Laptop benutzen, auf dem ein ungewöhnliches Schreibprogramm installiert war. Das nämlich schluckte am Ende die Beiträge der Schreiber, ohne dass der Autor sie selbst speichern konnte. Auch hatten die Macher ein gemeines Zeitlimit ins Schreibtool eingebaut. Wer zum Beispiel mit einem Text begonnen hatte und mittendrin länger als acht Minuten pausierte, verlor sein Textfragment ebenfalls an das System, ohne noch einmal eingreifen zu können. Auch konnte keiner auf Texte der Anderen Bezug nehmen. Jeder Beitrag schloss sich automatisch an den vorherigen an. So entstand innerhalb von 12 Monaten quasi ein einziger Text, indem die Beiträge chronologisch geordnet und ungeschönt ihren Weg in den Druck fanden.
Die Gesellschaft als Autor
"Erleichtert und ganz normal verwirrt" sei er, sagt Künstler Jochen Gerz bei der Buchvorstellung. "Wir qualifizieren uns doch meistens dadurch, was andere geschrieben haben. Dabei wirken viele Bücher so, als wären sie von vielen geschrieben worden." Genau da setzt also die Gerz'sche Idee an und passte wohl auch deshalb so gut ins Kulturhauptstadtjahr mit seinem Credo "Kultur für alle". Herausgekommen ist ein Stück Kunst als Sammelbeitrag von vielen. Denn nicht nur die 78 neuen Mieter schrieben, auch Besucher und Nachbarn verewigten sich. "Die Gesellschaft als Autor ist ein Rohstoff, den wir noch nicht gehoben haben und ein bisschen davon wollte ich zeigen", so Gerz.
Lyrisch, brutal, begeistert und frustriert
Ist der Mietshausflur schon Kunst?
Um was also geht es in diesem Buch, dessen Produktion ein Jahr lang unsichtbar für die Verfasser voranging? Mal sind es Beobachtungen, mal Zwiegespräche, mal wähnt sich der Leser in einem Tagebuch, mal in einer Reportage oder Kurzgeschichte. Mal klingt es lyrisch, mal brutal, mal verträumt, mal begeistert und mal frustriert. Das Buch sei am Ende ein Paradox, sagt Söke Dinkla, die das Kulturhauptstadtbüro in Duisburg leitete. "Es wurde kreiert im Ausnahmezustand und will gleichzeitig alltägliches Sein zeigen."
"Nichts glatt gebügelt"
"Es sind nicht nur viele sehr persönliche Texte entstanden", sagt Nina Dunkermann, eine der beiden Lektorinnen. "Es sind Geschichten in Echtzeit, manchmal brechen sie mittendrin ab und manchmal nehmen Autoren später dann einfach wieder den Faden auf. Wir haben nichts glatt gebügelt, höchstens sanft korrigiert, wenn wir uns sicher waren, dass der Autor einen Flüchtigkeitsfehler übersehen hatte. Wir konnten den Autor ja nicht zu seinem Text befragen." Auch eine Besonderheit der riesigen Textsammlung: Alle 887 Verfasser haben anonym geschrieben. Besonders ist aber auch der Preis des 3.000-Seiten-Wälzers. Er soll 86 Euro kosten.
Gekommen, um etwas zu verändern
Sie habe bislang nur mal kurz reingeguckt ins Buch, verrät Isabelle Reiff. Dabei stehen doch auch ihre Beiträge nun schwarz auf weiß in diesem Mammutwerk, das der NRW-Staatssekretär für Kultur bei der Pressevorstellung vollmundig "ein Juwel" nennt. Isabell Reiff ist für das Projekt von Köln in die Dortmunder Nordstadt gezogen. Hier lebt sie heute noch, obwohl das Jahr längst um ist. Da ist sie nicht allein. 50 Prozent der neuen Mieter sind geblieben. "Ich hätte ewig so weiterschreiben können." Und jetzt? "Ich habe bei uns im Viertel eine Mieterzeitung entwickelt, damit die Menschen nicht verloren gehen."
Nachbar und ebenfalls ehemaliger Projektteilnehmer Volker Pohlüke hat Ähnliches im Sinn. Auch er ist einfach am Dortmunder Borsigplatz geblieben und will künftig gemeinsam mit ein paar Mitstreitern Ernst machen. Ein Kreativ-Büro im Viertel eröffnen, günstige Möbel verkaufen, eine Mini-Musikschule eröffnen und die Wohngegend verschönern - all das steht schon auf der Ideenliste. Schließlich seien sie damals, vor mehr als einem Jahr gekommen, um etwas zu verändern.