Zuschauer im Reisefieber bei "Odyssee Europa"
Die Mutter aller Irrfahrten
Stand: 04.03.2010, 15:00 Uhr
Sechs Uraufführungen, 14 Stunden Schauspiel, 77 Schauspieler - im Ruhrgebiet wurde am Wochenende (27./28.02.2010) ein Theatermarathon gegeben. Doch die "Odyssee Europa" der Ruhr 2010 ist kein Extremsport für Theaterjunkies, sondern ein fröhlicher Ausnahmezustand. WDR.de war dabei.
Von Christoph Schurian
Vor bald 3.000 Jahren verfasste Homer die Geschichte von Odysseus, einem der Sieger von Troja, der nicht zurück nach Ithaka, zu Frau, zu Hof und Sohn findet. Der Meeresgott Poseidon wütet gegen ihn, der Held muss über stürmische Meere, findet bei einer Zauberin Unterschlupf. Nach 20 Jahren strandet Odysseus an der Küste Ithakas. Seine Ehefrau Penelope erkennt ihn kaum wieder, nassauernde Freier haben sich am Hof eingenistet, Sohn Telemachos ist erwachsen. Odysseus tötet Penelopes Verehrer und ihre Helfershelfer. Doch wie die Geschichte weiter geht, verliert sich in Mythen.
An dieser Stelle setzt die "Odyssee Europa" an, das erste Theater-Großereignis der Kulturhauptstadt-Saison. Vereint durch die Ruhr 2010, haben sechs Bühnen der Region ein Projekt auf den Spielplan genommen, das Homers Epos in sechs Uraufführungen weiterspinnt und mit einer zweitägigen kleinen Odyssee durchs Ruhrgebiet verbindet. Von Essen geht die Fahrt kreuz und quer über Bochum nach Oberhausen, am Folgetag werden Mülheim, Moers und zum Abschluss Dortmund erreicht. WDR.de hat sich mittreiben lassen.
Held ohne Gottvertrauen
Essen, Samstag, 11.30 Uhr: Der polnische Autor und Regisseur Grzegorz Jarzyna lässt am Grillo-Theater einen blassen Mann an der Küste Ithakas stranden, der sein Gottvertrauen verloren hat. Einsam beginnt Odysseus ein stummes Gebet, bevor er in die Schlacht gegen die Freier zieht. Durch die Hand seines aufmüpfigen Sohnes findet er den Tod.
Bochum, 17.55 Uhr: Natürlich ist die Ruhrtheaterreise auch ein Kräftemessen der Bühnen. Nicht nur die sechs europäischen Dramatiker, die sich haben inspirieren lassen, sondern auch Vertreter der anderen Theater sind dabei - und Prominente wie der Intendant des Berliner Ensembles, Claus Peymann. Mit Buhrufen reagiert er an seiner alten Wirkungsstätte auf den Bochumer Hauptdarsteller: Auf einer Guckkastenbühne am Schauspielhaus wird Odysseus' Abstecher in die Unterwelt nachgestellt - der Held ist ein starker Raucher, eine fast leidenschaftslose Figur. Das Publikum hat für das fabelhafte Spiel von Wolfgang Michael weit mehr übrig als Peymann.
Mondschein über dem Rhein-Herne-Kanal
Bochum, 18.10 Uhr: Ein Glas Wein auf der Premierenfeier, "dann schlaf' ich wohl ein". Ulrike Seybold vom Organisationsteam der "Odyssee Europa" ist nach wochenlanger Vorbereitung erschöpft. Gerade hat sie die aus dem Schauspielhaus strömenden Theaterbesucher mit dem Megaphon angetrieben. "Die Mitreisenden begeben sich bitte in die bereitstehenden Busse." Die nächste Etappe: eine Schifffahrt mit Abendessen auf dem Rhein-Herne-Kanal Richtung Theater Oberhausen. Auf dem Kanal spiegeln sich die Lichter von Hafenanlagen im Fahrwasser der Santa Monika II. "Das Schiff ist älter als die Titanic", hat der Kapitän stolz verkündet. Kurz hinter Wanne-Eickel zeigt sich der Mond über dem Südufer des Kanals.
Oberhausen, 21.04 Uhr: Uraufführung Nummer drei. In Badehosen belauern sich vier Freier in einem leeren Pool. Bange warten sie auf Odysseus' Heimkehr, ringen immer verzweifelter um Penelopes Gunst, die den mörderischen Wettkampf der Nebenbuhler distanziert wie die Spielleiterin einer Fernsehshow beobachtet. Als Idee der Abschreckung, mit der sich Penelope die Männer vom Leib hält, ist der Odysseus des irischen Autoren Enda Walsh der furchteinflößendste dieses Wochenendes - als echte Figur taucht er in Oberhausen gar nicht auf.
Das Böse an sich
Mülheim, Sonntag, 10.45 Uhr: Nach einer kurzen Nacht steht Oliver Scheytt mit den anderen Reisenden im Foyer des Theaters an der Ruhr und wirkt zur Halbzeit sehr zufrieden mit dem Theater-Happening. "Wir sind bei den Leuten angekommen mit den Geschichten, der Idee, diesem Wochenende", sagt der Geschäftsführer der Ruhr 2010. Zu anstrengend sei das nicht, findet der Kulturmanager, oft bleibe noch Zeit für einen Kaffee, "und die Reisen empfinde ich als angenehm". Nah am Geschehen im Theaterpark, bei einem Engel auf einer Müllhalde, erlebt Scheytt das letzte Bild des Mülheimer Beitrags zur Odyssee, des "Sirenengesangs" des Ungarn Péter Nádas. Odysseus ist in dem Stück eine Nebenrolle, es geht um Verführung, Unterwelt, Vergewaltigungen, Massenmord, das Böse an sich, und nicht nur das Ende ist ein Oldie: "Sympathy for the devil".Politik in der Tennishalle
Duisburg, 12.36 Uhr: Die Agentur "Raumlabor" aus Berlin hat das Umfeld der Aufführungen entwickelt, auch eine Busfahrt von Mülheim nach Moers am Ruhrdeich entlang. Rechts strömt der Fluss zum Rhein, links die Autobahn, dazwischen die Kleingartenanlage "Ruhrperle". Spitzgiebelige Häuschen, Deutschlandfahnen, blaue Autobahnschilder. Später passiert die Reisegruppe die "weißen Riesen" von Hochheide, trostlose 70er-Jahre-Wohnsilos - im Schmuddelwetter. Orkantief "Xynthia" bringt Regen, Hagel und Wind von der Nordsee.
Moers, 14.13 Uhr: Das Schlosstheater spielt in einer ehemaligen Tennishalle eine weibliche, türkische Odyssee der Autorin Emine Sevgi Özdamar. Eine Irrfahrt der jungen Perikizi, die um Auswanderung kreist, um Ausbeutung und Anpassung. Sie gipfelt auch für die Zuschauer in einem befreienden Hochzeitsfest, einem "Bad in der offenen See". Tee wird dazu gereicht, Süßigkeiten und Kolonya - türkisch Kölnisch Wasser. Dann plötzlich Politik: Der Intendant bittet die Besucher, für den Erhalt der kleinen Bühne zu unterschreiben.
Dortmund, 17.22 Uhr: Die Irrfahrt endet in einem riesigen Straßenbahndepot in der Nordstadt. Eine Festtafel für 300 Gäste ist aufgebaut. Es gibt türkische Musik, türkische Küche, lange Schlangen, Stimmensummen. Edith Weiser und Gregor Bodden sind "glücklich", die Reise mitgemacht zu haben. Sie kommen aus Essen, haben das Theaterhappening aber trotzdem mit Übernachtung gebucht. Die Gelegenheit, sechs so unterschiedliche Stücke so kompakt vorgeführt zu bekommen, habe sie begeistert - aber noch mehr die "neuen Kontakte mit anderen Zuschauern oder unseren Gastgebern in Moers". Dann am Tisch eine Fragerunde: Wem hat welches Stück am besten gefallen?
Inszenierung mit vielen Statisten
Dortmund, 17.55 Uhr: "Nein", sie werde sicherlich kein Ranking der Ruhr-Bühnen vornehmen, sagt Silvia, Lehrerin aus Essen, vor der letzten Aufführung. "Die Art von Reise hat mich viel zu sehr begeistert, diese Inszenierung mit uns." Im Katalog der Odyssee stehe ja, dass es "um die Bühnenwerdung der Welt" gehe. Ihre Theaterfreundin Maritz meint, sie habe selten mit so vielen Leuten gesprochen. Komisch, dass es das nur bei einem solchen Happening gebe.
Dortmund, 22.00 Uhr: Die Ankunft in einer fremd gewordenen Heimat steht auch in der am lautesten bejubelten Inszenierung des Wochenendes im Mittelpunkt. In "Odysseus, Verbrecher" des österreichischen Dramatikers Christoph Ransmayr liegt Schnee auf Ithaka. Die Freier nennen sich "Reformer", haben Stauseen, Industrien, Schlachthöfe geschaffen, sie haben sich nicht mit dem Weinkeller des verschollenen Odysseus begnügt. In großem Stil beuten sie Ithaka aus, bis sie vom Heimkehrer erschlagen werden. Müde hält Odysseus hernach seinen Sohn in den Armen. Hält er ihn zu fest?