Nur noch schnell diese kleine Arbeit erledigen - das war der Denkfehler im Büro. Es ist nachmittags um halb fünf in Köln. Schon zuvor waren Kollegen zu mir gekommen, haben gefragt, ob ich wegen des angekündigten Sturms nicht nach Hause wolle, schließlich sei ich Pendlerin. Ich wohne in Breckerfeld bei Hagen. Ach was, winke ich ab, die Züge werden schon fahren.
Von wegen: Kaum erreiche ich den Bahnhof, dröhnt es aus dem Lautsprecher: "Sehr verehrte Fahrgäste, wegen der aktuellen Unwetterlage verlässt vorerst kein Zug den Bahnhof." Um mich herum lange Gesichter. Man vertreibt sich die Zeit, liest Anzeigentafeln, telefoniert mit der Familie. Die Durchsagen wiederholen sich.
Schwerpunkt
Stillstand am Kölner Hauptbahnhof
Schließlich fängt jemand an, die Stimme aus dem Lautsprecher mitzubeten. Verhaspelt sich. Lachen. Ein älterer Herr erfindet sinnfreie weitere Durchsagen. Das steckt an. Sofort helfen ihm alle Umstehenden beim Texten. Unter den Pendlern macht sich erstmals gute Laune breit: Der Sturm ist höhere Gewalt, man kann nichts daran ändern, also macht man das Beste daraus.
Genuss in vollen Zügen
Im Lauf des Abends solidarisieren sich Fahrgäste und Personal. Man merkt: Alle - auch die Bahnmitarbeiter - wollen nach Hause, und niemand weiß, ob und wann das noch gelingen wird. Die Züge im Bahnhof werden als Aufenthaltsräume freigegeben, die Bahn spendiert Brötchen, Getränke, Pralinen und Nüsschen. Die Mitarbeiter machen freiwillig Überstunden um die Reisenden zu versorgen.
Ein Quartett jugendlicher Handybesitzerinnen kommt auf eine lustige Idee: Mama anrufen, und ihr sagen, dass man nicht nach Hause kommt, weil die Züge nicht mehr fahren. Man habe sich schon Zahnbürsten gekauft, und Mama solle sich keine Sorgen machen.
Auch ich sollte meine Rückreise organisieren. Mit meinem Mann vereinbare ich, mich mit ihm in Solingen zu treffen. Er arbeitet dort, und hat sein Büro noch nicht verlassen. Zur Not - wenn gar keine Züge mehr fahren - will er mich in Köln abholen.
Der Bahnhof wird zum Campingplatz
Abends um halb zehn wird die Befürchtung zur Gewissheit: Die Züge werden in dieser Nacht nicht mehr den Bahnhof verlassen. Ich brauche also eine Zahnbürste. Der Weg zur nächsten Bahnhofsdrogerie wird zum Abenteuer: Die Gänge sind voll von Menschen. Erstaunlicherweise sind alle gut gelaunt. Ich schunkle kurz mit einem Trüppchen Karnevalisten und laviere mich durch einen Leute-Würstchen-Senf-Bierdosen-Hindernisparcours vor einem Schnellimbiss.
In der Drogerie - keine Zahnbürsten mehr. Alle ausverkauft. Auch keine Zahnpasta. Mir fallen die Handy-Mädels ein. War das doch kein Witz? Also Kaugummi mitgenommen - das vermittelt wenigstens die Illusion von frischem Atem. Die Alkoholabteilung kurz vor der Kasse ist verdächtig leer. Schnell noch nebenan einen Krimi kaufen, und die Zugnacht kann beginnen!
Ein Hoffnungsschimmer: Die Taxis
Schließlich kommt um kurz vor zehn die erlösende Durchsage: Für Pendler gebe es ab sofort Taxi-Gutscheine am Servicepoint. Man müsse nur drei Mitreisende finden, die in die gleiche Richtung wollen. Bei Tausenden von Menschen kein Problem. Die Gutscheine verteilt ein erstaunlich gut gelaunter Bahnmitarbeiter. Irgendwelcher bürokratischer Aufwand? Fehlanzeige. Ich fange an, die Bahn zu mögen.
Mit dem Gutschein in der Hand und drei Mitreisenden dicht an meinen Fersen stürme ich zum Taxistand, wo sich eine Blechlawine mit einer Menschenschlange kreuzt. Fast alle Kölner Taxifahrer schieben Überstunden. Wir werden in einen Wagen geschubst. Unsere Fahrerin wirkt müde, aber hochkonzentriert. Und langsam merke auch ich, wie schlapp ich eigentlich bin.
Schweigend fahren wir nach Solingen - über Umwege, weil die Autobahnen teilweise dicht sind. Auf den Straßen liegen immer wieder Ziegel, Blechteile und dicke Äste, aber noch denke ich mir nichts dabei. Ich bin froh, nach gut fünf Stunden Warterei auf dem Weg nach Hause zu sein.
Von Solingen weiter? Denkste!
In Solingen Umsteigen ins Auto. Ich werde schon sehnsüchtig erwartet. Mein Mann hatte sich Sorgen gemacht. Aber jetzt wird ja alles gut. Noch eine Stunde Fahrt, und dann ab ins Bett! Von wegen: Schon an der Autobahnabfahrt erwartet uns ein Blitzlichtgewitter in Blau. Feuerwehren, THW, Polizei: Alle Helfer sind im Einsatz. Die Straßen sind dicht, die Zufahrtswege nach Breckerfeld blockiert. Auf unserem Schleichweg liegt ein Baum quer über der Fahrbahn - gut einen halben Meter dick.
Nach einer Stunde Irrfahrt geben wir auf. Die Straßen werden noch mehrere Stunden lang gesperrt sein, versichert uns die Polizei. Die Hotels sind mitten in der Nacht entweder schon belegt, oder geschlossen. Uns bleibt nur noch eins: Zurück nach Solingen, in die Firma meines Mannes. Wir schlafen dort im Büro - auf einem Notlager aus Decken und Kissen. Aber wenigstens hatte die Autobahnraststätte unterwegs noch Zahnbürsten!