Loveparade-Opfer suchen Wege aus dem Trauma
Die Batterie ist leer
Stand: 25.10.2010, 10:11 Uhr
Drei Monate nach der Loveparade-Katastrophe haben sich Betroffene zum ersten Mal in einer großen Selbsthilfegruppe getroffen. Unter ihnen: Timmy und Bianca. Er hat seinen Job verloren, sie musste fast eine Stunde um das Leben ihrer Tochter kämpfen.
Von Andreas Poulakos
Das gemeinsame Wochenende (23./24.10.10) ist vorbei, jetzt heißt es Abschied nehmen: Überall im Speiseraum des Hotels im Düsseldorfer Norden stehen kleine Grüppchen beisammen, man umarmt sich und tauscht E-Mail-Adressen oder Telefonnummern aus. Auf den ersten Blick haben die Anwesenden kaum etwas gemeinsam: Jugendliche mit vielen Piercings sind ebenso dabei wie Männer und Frauen mittleren Alters. Trotzdem: Der Umgangston ist sehr herzlich, als würden sich alle schon lange kennen. "Wir sitzen hier alle im selben Boot", sagt Timmy (53) aus Düren, der seinen richtigen Namen lieber für sich behalten möchte. "Wenn ich mit Freunden oder Verwandten heute über alles sprechen möchte, sagen sie oft 'Das ist doch schon so lange her, lass uns doch mal wieder über Fußball reden'. Hier ist das anders."
Kontakt kam über das Internet zustande
Timmy ist einer von rund 40 Betroffenen, die sich drei Monate nach der Loveparade-Katastrophe von Duisburg zum ersten Mal getroffen haben. Organisiert wurde das Treffen von der Stiftung Notfallseelsorge der Evangelischen Kirche im Rheinland und dem NRW-Gesundheitsministerium. Viele Teilnehmer haben über die Homepage "hilfe-loveparade.de" von dem Treffen erfahren. Hinter dem Angebot steht ein Team von Seelsorgern, an die sich unmittelbar Betroffene und deren Angehörige mit ihren Fragen wenden können. Zwei Tage lang hatten die Teilnehmer der Selbsthilfegruppe Zeit, von ihren Erfahrungen zu berichten. Und darüber, wie sich ihr Leben seit dem 24. Juli 2010 verändert hat.
Ärger mit der Krankenkasse
"Alles was ich will, ist einfach ganz normal weiterleben", erzählt Timmy. Aber aufgrund seiner Schlafstörungen und den immer wiederkehrenden Panikattacken lebe er seit Monaten im psychischen Ausnahmezustand: "Tunnel gehen gar nicht mehr, große Menschenmengen auch nicht." Seinen Job als Monteur für Einbauküchen habe er verloren. "Ich konnte mich einfach nicht mehr konzentrieren."
Angefangen habe alles erst Tage nach der Loveparade. "Direkt nachdem sich die Menge aufgelöst hat, bin ich erstmal wie in Trance nach Hause gefahren." Erst viel später sei er zum Arzt gegangen. "Ich wollte eigentlich nur Schlaftabletten, aber der hat sofort gesehen, dass ich Hilfe brauche." Inzwischen hat Timmy einen fünfwöchigen Aufenthalt in einer Klinik hinter sich. Gebessert habe sich sein Zustand nicht. "Eigentlich wurde ich da nur mit Psychopharmaka versorgt. Außerdem gab es ein bisschen Stresstherapie." Eine spezielle Behandlung in einer Klinik für Trauma-Patienten habe seine Krankenkasse abgelehnt, sagt er. "Dabei wurde uns doch gesagt, dass uns allen schnell und unbürokratisch geholfen wird!"
Angstzustände, Depressionen, Aggressionen
"Wir werden uns darum kümmern", verspricht Hartmut Jatzko, der die Selbsthilfegruppe als ärztlicher Betreuer begleitet hat. Das Treffen sei nicht nur aus therapeutischer Sicht wichtig gewesen, sondern habe auch gezeigt, wo es noch Lücken bei der Betreuung gebe. Traumata könnten sehr unterschiedliche Symptome hervorrufen, erklärt der Psychiater, der seit der Ramsteiner Flugtag-Katastrophe im Jahr 1988 mit Trauma-Patienten arbeitet: "Sie können sich in Angstzuständen, Depressionen bis hin zu aggressiven Verhalten äußern." Der Austausch mit anderen Betroffenen sei auch deshalb wichtig, weil sich Betroffene in der Gruppe verstanden fühlen. "Außenstehende können in aller Regel nicht nachvollziehen, was in diesen Menschen vor sich geht."
"Meine Batterie ist leer"
Im Gegensatz zu Timmy ist Bianca Weingarten äußerlich nicht anzusehen, was sie in den vergangenen Wochen durchgemacht hat. Die 34-Jährige aus Mönchengladbach lacht viel und wirkt auch sonst entspannt und abgeklärt. "Ich habe meine Höhen und Tiefen", sagt sie. "Manchmal ist die Depression so stark, dass ich nur noch am Sofa festklebe. Dann kann ich nur noch daran denken, dass ich fast mein Kind verloren habe." In der drängenden Enge auf der Zugangsrampe zum Festgelände hatte sie an jenem Tag im Juli zusammen mit Freunden eine schreckliche Dreiviertelstunde kämpfen müssen, ihre 16-jährige Tochter vor dem Erstickungstod zu bewahren. "Da habe ich alle Kraft verbraucht. Meine Batterie ist leer."
In den Wochen danach habe sie überall nur noch tödliche Gefahr sehen können. "Ich war auf einem Konzert, aber da hatte ich fast nur die Notausgänge im Blick." Die gegenseitigen Schuldzuweisungen der Loveparade-Organisatoren, der Polizei und der Stadt Duisburg erfüllten sie mit ohnmächtiger Wut, sagt sie. "Mir hätte es schon geholfen, wenn sich einer von denen hingestellt und einfach und ehrlich gesagt hätte 'Es tut uns leid'."
Es ginge dabei nicht um eine finanzielle Entschädigung, sagt auch ihr Freund Jürgen Rosen (41), der sie zur Loveparade und nun auch zur Selbsthilfegruppe begleitet hat: "Das kann man doch gar nicht entschädigen. Oder können Sie sagen, was 45 Minuten Todesangst wert sind?"
Aufarbeitung kann Jahre dauern
Es werde noch viele Treffen dieser Art geben, sagt Jatzko. Die Aufarbeitung sei ein sehr langwieriger Prozess, der viele Jahre andauern könne. Aber es gebe jetzt schon erste Erfolge: "Alle wollen wiederkommen. Sie begreifen sich als Schicksalsgemeinschaft. Das ist unglaublich wichtig." Er hoffe, dass den Betroffenen bald auch die positiven Perspektiven ihrer Situation bewusst werden. "Ein Trauma ist immer auch die Chance, als Mensch zu reifen."