Piraten-Parteitag in Münster
Der lange Weg zur Liste
Stand: 26.03.2012, 09:14 Uhr
Der Nominierungsparteitag der Piraten entwickelt sich zum zähen Marathon. Am frühen Sonntagabend (25.03.2012) steht jedoch fest, wer dem sogenannten Spitzenquartett angehören soll. Bereits am Samstag (24.03.2012) hatte sich im Rennen um den Spitzenplatz der Neusser Joachim Paul überraschend gegen Piraten-Chef Michele Marsching durchgesetzt.
Von Sven Gantzkow
Normalerweise ist NRW-Piraten-Chef Michele Marsching bei Twitter recht aktiv. Bis zu zehn Tweets pro Tag sind keine Seltenheit. Gemessen daran blieb Marschings Account am Samstag (24.03.2012) nahezu unberührt. Gerademal zwei Nachrichten setzte er ab: Zum einen die launige Wiedergabe eines Gesprächsschnipsels am Rande des Parteitags. Und zum anderen die Antwort auf eine Presseanfrage für ein Porträt als Spitzenkandidat der Piraten. Sie lautete: "Wenn das Plenum mich dazu wählt, dann bin ich dazu gerne bereit."
Nur einer schafft die 50-Prozent-Hürde
Das Plenum wählte ihn nicht zum Spitzenkandidaten. Joachim Paul, Medienpädagoge aus Neuss, erhielt überraschend mehr Stimmen. "Nein, ich bin nicht enttäuscht", sagt Marsching am Sonntag (25.03.2012) WDR.de. "Wir haben mit Joachim Paul einen unglaublich fähigen Mann. Ich schätze ihn persönlich und habe ihn auch gewählt." Bei der Stimmabgabe war Mehrfachnennung möglich. 59 Piraten hatten sich für die Listenplätze eins bis vier aufstellen lassen. Jeder Kandidat hatte drei Minuten Zeit, um sich vorzustellen. Blieben Fragen offen, hatten die Parteitagsteilnehmer die Chance, nachzuhaken. Um einen Listenplatz zu ergattern, muss ein Kandidat mindestens die Hälfte der Wähler von sich überzeugt haben. Paul war mit 202 Ja-Stimmen bei insgesamt 398 abgegebenen Stimmzetteln der einzige, dem das gelang. Marsching verfehlte die Hürde mit 190 Ja-Stimmen knapp. Am Sonntagmorgen ging der Nominierungsmarathon weiter.
"Wir machen keine Pflichtkreuze"
Piratin Marina Weisband
Was für Beobachter langatmig, unübersichtlich, teilweise sogar chaotisch wirkt, ist für die Piraten eine Selbstverständlichkeit: "Bei uns gibt es keine inszenierten Wahlen, wir machen keine Pflichtkreuze", sagt Achim Müller, Sprecher des NRW-Landesverbandes am Sonntag WDR.de. Parteitage, auf denen eine bestimmte Delegiertenzahl bereits vorgeschlagene Kandidaten wählt, lehnen die Piraten ab. Basisdemokratie ist ihr Credo, endlose Zeitverzögerungen sind das notwendige Übel. Von ihrem Wahlprozedere sind sie überzeugt: "Das System mit der Befragung funktioniert", postet Marina Weisband am Sonntagmorgen. "Die ganz guten und ganz schlechten Kandidaten werden nicht befragt." Die 24-jährige Münsteranerin ist politische Geschäftsführerin der Bundespartei und dank inflationärer Talk-Show-Auftritte so etwas wie das Gesicht der Piraten. Bei Twitter ist sie während des Parteitags quasi dauer-on. So erfährt man als Follower, dass sie aus dem Kandidatenkreis für die verbleibenden drei Plätze des Spitzenquartetts ganze 37 unterstützt.
Querelen um Diätenerhöhung
Die Auszählung zieht sich in die Länge
Bei so viel Basisdemokratie wundert es nicht, wenn der Favorit im ersten Wahlgang strauchelt. Dass Michele Marsching die 50-Prozent-Hürde verfehlte, führt er unter anderem auf seine umstrittenen Aussagen zu möglichen Diätenerhöhungen zurück. Marsching hatte sich für eine inflationsangleichende Anpassung der Abgeordnetenbezüge ausgesprochen. Nachdem ihm dafür im Netz harsche Kritik entgegenprasselte, stellte er am Samstag im Rahmen der Befragung klar: "Ich nehme diese Aussage zurück. Ich bin mit dieser Meinung allein auf weiter Flur. Die Piraten lehnen eine weitere Diätenerhöhung ab."
Von diesen Querelen profitierte Joachim Paul: Der 54-jährige Medienpädagoge und promovierte Biophysiker aus Neuss hat sich bislang bei den Piraten als Bildungsexperte hervorgetan. Er fordert unter anderem ein eingliedriges Schulsystem, außerdem soll es Sitzenbleiben nach seiner Vorstellung nicht mehr geben, nur das Wiederholen einzelner Schulfächer. Nach seiner Wahl kündigte er an, sich thematisch breiter aufzustellen. "Er ist eloquent, er drängt sich nicht vor, er denkt nach - und ist ein unglaublicher Team-Player", ist Achim Müller voll des Lobes für den Mann auf Platz eins der Liste. Er soll ein sogenanntes Spitzenquartett anführen. Am frühen Sonntagabend stand dann fest, wer ihm noch angehören soll. Michele Marsching schaffte den Sprung unter die ersten Vier. Allerdings nur knapp mit 74,8 Prozent. Vor ihm landeten nach Stimmen der Neusser Feuerwehrmann Lukas Lamla (77,5 Prozent) und der Düsseldorfer Schriftsetzer Marc Olejak (75,4).
Lindner: "Piraten sind eine Projektionsfläche"
Während der Parteitag am Sonntag die weiteren Mitglieder des Spitzenquartetts benennt, geraten die Piraten ins Visier der politischen Kontrahenten: FDP-Spitzenkandidat Christian Lindner sagte in einem Zeitungsinterview: "Die Piraten verwechseln Freiheit mit Anarchie, wie man bei ihren Diskussionen über das geistige Eigentum im Internet sehen kann." Es gebe weder ein klar umrissenes Programm noch eine definierte Zielgruppe. "Sie sind eine Projektionsfläche", kritisierte Lindner.
160 Piraten kämpften am Sonntag noch um die verbleibenden 41 Listenplätze. Inzwischen haben die Piraten auf ihrer Internetseite die komplette Liste veröffentlicht.