Über kein anderes Zelt haben die Journalisten in Dortmund jemals so viel geschrieben wie über das weiße Zelt auf dem Envio-Betriebsgelände. Weiß - damit ist in diesem Fall nur die Farbe gemeint, denn von innen ist es alles andere als sauber. Es ist hochgradig mit PCB verseucht, und das, obwohl der Giftstoff dort niemals hätte gefunden werden dürfen. Das Zelt gehörte zum so genannten weißen Bereich der Recyclingfirma Envio, einem Bereich, in dem sich keine Giftstoffe befinden dürfen. Envio hatte sich darauf spezialisiert, alte Transformatoren aus dem In- und Ausland von PCB zu reinigen. Die Reinigungen wurden jedoch keineswegs sachgemäß durchgeführt - so der Vorwurf gegen das Unternehmen.
Der Skandal begann am 28. April 2010. Die Bezirksregierung nahm im weißen Zelt Fegeproben. Als das Untersuchungsergebnis vorlag, wurde der Betrieb sofort stillgelegt.
Erhöhte PCB-Werte bei über 200 Menschen
Seitdem ermittelt die Staatsanwaltschaft Dortmund, und die Diskussionen über die Rolle der Aufsichtsbehörden bei dem Skandal reißt nicht ab. Fakt ist: Bei über 200 Menschen wurden zum Teil stark erhöhte PCB- und Dioxinwerte im Blut nachgewiesen. Die meisten von ihnen sind oder waren Beschäftigte von Envio, dazu kommen Mitarbeiter benachbarter Firmen und Angehörige der Arbeiter. Die mit dem Giftstoff kontaminierte Arbeitskleidung war in einigen Fällen zu Hause in der Waschmaschine gewaschen worden. Auch Kinder sind betroffen.
Die erhöhten Blutwerte bedeuten allerdings nicht, dass die Betroffenen krank sind - aber bei ihnen ist die Gefahr größer, beispielsweise an Krebs zu erkranken. Die Uniklinik Aachen hat im September 2010 ein großes Untersuchungsprogramm in Dortmund für die Betroffenen begonnen. Die Blutuntersuchungen und die medizinische Betreuung haben bislang 1,5 Millionen Euro gekostet - die Rechnung geht zu einem Großteil an die Berufsgenossenschaft Energie, Textil und Elektro.
Schaden für das Industriegebiet Hafen
Auch die Nachbarfirmen im Envio Technologiepark im Dortmunder Hafen hat der Skandal schwer getroffen. Der Stahlverwerter RRD (Rohstoff Recycling Dortmund) wurde wochenlang stillgelegt, weil er einen vermeintlich gereinigten Trafo von Envio bezogen hatte. Der Schaden beträgt mindestens eine halbe Million Euro. Eine andere Firma, der Maschinenbauer ABP Induction, musste die Betriebskantine wegen PCB schließen. Der Giftstoff war vermutlich durch die Lüftungsanlage in das Gebäude eingedrungen. Zwei Firmen sind bereits weggezogen - der Imageschaden ist groß.
Envio: Wirtschaftlicher Erfolg trotz Insolvenz
Dennoch konnte Envio erst kürzlich eine Erfolgsmeldung an die Aktionäre herausgegeben: Trotz der Stilllegung am Standort Dortmund konnte der Umsatz nach Angaben des Unternehmens in den ersten neun Monaten um fast 50 Prozent gesteigert werden - dank des Werkes in Korea. Zu der Erfolgsmeldung der Aktiengesellschaft passt aber gar nicht, was in Deutschland passiert. Zum einen hat die Aktie hier stark an Wert verloren: Hatte sie im April noch einen Gegenwert von über vier Euro, so sank das Papier auf 54 Cent (Stand 30.12.2010, 9.15 Uhr). Zum anderen meldete Envio für zwei Tochtergesellschaften im Oktober Insolvenz an.
Branchenkenner glauben an Bilanztrick
Zur Hauptversammlung der Envio AG Ende November wurden die Aktionäre nicht mit der Auszahlung einer Dividende, sondern einer Sachdividende in Form von Aktien an einem neuen Unternehmen, der Bebra Biogas, überrascht. Branchenkenner vermuten, dass die Firma ihr Grundkapital verschieben will, um möglichen Schadenersatzansprüchen zu entgehen. Ob die Betroffenen Mitarbeiter und die geschädigten Firmen jemals Schadenersatz von Envio erhalten werden, bleibt fraglich. Die Bezirksregierung hat gegenüber einer der insolventen Tochtergesellschaften eine Sicherheit für die Sanierung des Geländes in Höhe von 1,8 Millionen Euro gefordert - das Kapital der Tochtergesellschaft wurde jedoch vom Insolenzverwalter eingefroren.
Weitere Auseinandersetzungen vor Gericht
Die geforderten 1,8 Millionen Euro waren bloß eine schnelle Schätzung der Bezirksregierung Arnsberg. Wie hoch die tatsächlichen Sanierungskosten sind, kann noch nicht beziffert werden. Das Gutachterbüro Talberg Ingenieure arbeitet an einem Gutachten. Fest steht, dass die Betriebshallen von Envio stark mit PCB belastet sind und zwar nicht nur die Geräte, die in der Halle stehen, sondern auch Decken, Wände und Böden. 900 Proben wurden in den Hallen genommen, 500 Proben im Zelt. Regierungspräsident Gerd Bollermann (SPD) erwartet weitere gerichtliche Auseinandersetzungen mit Envio. Bislang hat die Firma gegen jeden einzelnen Schritt geklagt. Auch wenn Envio in Dortmund keine Gewerbeerlaubnis mehr besitzt, darf die Behörde trotzdem nicht einfach radikal sauber machen. Zumindest wird das Zelt endgültig abgebaut - ein erster Schritt.