Sport inside: Die Zahlen klingen dramatisch, laut DLRG können 60 Prozent der Zehnjährigen in Deutschland nicht sicher schwimmen. Deckt sich das mit Ihren Beobachtungen?
Ilka Staub: Ja. Auch in der Praxis, wenn wir Schulen begleiten, nehme ich wahr, dass der Anteil der Nichtschwimmenden in der fünften und sechsten Klasse steigt.
Welche Auswirkungen hat das in der Schule?
Staub: Man geht in den Lehrplänen in NRW davon aus, dass die Kinder in der Grundschulzeit schwimmen lernen und in der weiterführenden Schule schwimmfähig sind. So sind auch die Bäder organisiert. In der Grundschule habe ich in jeder Schulschwimmzeit ein Lehrschwimmbecken und ein Tiefwasserbecken, sodass ich beiden Gruppen gerecht werden kann. In der weiterführenden Schule ist das oft nicht mehr der Fall. Das führt dazu, dass die nichtschwimmenden Kinder, die nach dem Sicherheitserlass gar nicht im Tiefwasser unterrichtet werden dürfen, oft nicht mehr unterrichtet werden.
Also kann es passieren, dass ein Kind in der weiterführenden Schule abgehängt wird und dann während des Schwimmunterrichts andere Aufgaben bekommt?
Staub: Ich weiß, dass es passiert, dass Schulleitungen sagen: Das bekommen wir nicht organisiert. Sie teilen dann den Eltern mit, dass sie sich um Schwimmkurse für ihr Kind kümmern müssen. Aber eskann durchaus sein, dass die Kinder hinten 'rüberfallen. Da geht es auch um Teilhabe. Wenn die Kinder kein Schwimmabzeichen haben und deshalb zum Beispiel nicht mit auf Klassenfahrt dürfen, dann werden sie ausgegrenzt.
Sind die Lehrer an weiterführenden Schulen überhaupt dahingehend ausgebildet, dass sie Kindern die Grundzüge des Schwimmens beibringen können?
Staub: Wir müssen da reagieren. Ich habe an der Sporthochschule einen Zusatzkurs im freien Wahlbereich "Schwimmanfänger richtig unterrichten" eingeführt, der von den Studierenden dankbar angenommen wird.
Wo liegen die Ursachen für die Entwicklung, dass immer weniger Kinder sicher schwimmen können?
Staub: Das ist eine gute Frage. Dass Bäder schließen und der Unterricht widrigen Bedingungen ausgesetzt ist, ist hinlänglich bekannt. Die Wasserflächen sind sehr knapp, auch außerhalb der Schule muss man sich sehr strecken, um einen Schwimmkurs zu bekommen. Außerdem ist an den Grundschulen ungefähr die Hälfte aller Lehrkräfte, die Schwimmen unterrichten, fachfremd, hat also keine Sportausbildung. Das ist zumindest in NRW ein großes Problem, in anderen Bundesländern wie Berlin ist das anders.
Zur Person
Ilka Staub (35) ist Lehrkraft für besondere Aufgaben im Lehr- und Forschungsgebiet Schwimmen an der Deutschen Sporthochschule Köln. Sie ist hauptsächlich in der Lehramtsausbildungfür den schulischen Schwimmunterricht tätig. In einer Studie hat sie gemeinsam mit Tobias Vogt, Leiter des Instituts für Vermittlungskompetenz in den Sportarten, einen neuen Fertigkeitstest entwickelt. Er soll vor allem im Schwimmunterricht ein einfach anzuwendendes Instrument sein, die schwimmerischen Grundfertigkeiten anhand fester Kriterien zu bewerten.
Und dann kam auch noch die Corona-Krise.
Staub: Ja, da fällt für ganze Jahrgänge die Schwimmzeit, die in der Schule vorgesehen ist, einfach weg. Bislang ist auch kein Ersatz in Aussicht. Das ist nicht so schlimm für Kinder, die eh gerne schwimmen gehen mit ihren Eltern. Wohl aber für Kinder, die darauf angewiesen sind, in der Schule schwimmen zu lernen, weil ihre Eltern nicht die Möglichkeiten, das Wissen, die Zeit und das Geld haben, sie in einen Schwimmkurs zu bringen.
Wenn nun aktuell viele Kinder keinen Zugang zu Schwimmunterricht haben, müssen Eltern umso aktiver werden. Was ist das optimale Alter, um schwimmen zu lernen?
Staub: Nach meinen Erfahrungen das Vorschuljahr. Wenn man davor schon viel im Schwimmbad ist, können sich die ersten beiden Stufen der schwimmerischen Grundbildung - das Untertauchen und Schwebegefühl - durchaus im freien Spiel entwickeln. Das ist wie beim Krabbeln oder Laufen Lernen. Wenn es danach um vielfältige Fortbewegung geht, braucht es auf jeden Fall einen Lehrer - diese Phase passt perfekt ins Vorschuljahr. Man kann das Schwimmen aber auch in der Grundschulphase noch hervorragend lernen.
Worauf sollten Eltern achten, wenn sie mit ihren kleinen, noch ungeübten Kindern ins Schwimmbad gehen?
Staub: Ideal ist es, weitestgehend auf Auftriebsmittel wie Schwimmflügel zu verzichten. Dafür braucht es aus Sicherheitsgründen am besten eine Eins-zu-eins- oder Eins-zu-zwei-Betreuung. Auftriebsmittel schränken häufig die Bewegung ein und verschieben das Auftriebsgefühl unnatürlich -bei Schwimmflügeln von der Lunge zu den Oberarmen. Das nimmt den Kindern das Gefühl, dass sie selbst schweben können. Und Kinder können im Vergleich zu uns Erwachsenen mit unseren langen Extremitäten ganz fantastisch schweben. Das ist vergleichbar mit den mittlerweile überholten Stützrädern am Fahrrad - heute können dank der Laufräder alle Kinder besser die Balance halten und dadurch früher Fahrrad fahren.
Sie haben an der Sporthochschule einen Test entwickelt, mit dessen Hilfe Lehrkräfte und Eltern die Schwimmfähigkeit der Kinder besser einschätzen können. Es gibt schon das Seepferchen und das Schwimmabzeichen in Bronze als anerkanntes Kriterium, ob ein Kind sicher schwimmen kann. Wozu braucht es noch Ihren neuen Test?
Staub: Die Idee war: Es gibt im Unterricht die klassische Einteilung zwischen Schwimmer und Nichtschwimmer. Unter den Nichtschwimmern gibt es aber eine große Schere an Können: Die einen gehen gar nicht ins Wasser, die anderen können sich im Lehrbecken schon relativ sicher fortbewegen. Wir wollten Schwimmfähigkeit messbar machen, bevor die erste Bahn zurückgelegt ist. Der Schwerpunkt der Abzeichen ist immer eine zurückgelegte Strecke, sie sind also sehr schwimmlastig, fortbewegungslastig. Unser Test orientiert sich dagegen an den klassischen schwimmerischen Grundfertigkeiten: Untertauchen, Schweben und Auftreiben, Gleiten, Atmen und Springen. Diese Grundfertigkeiten sind die Basis der Fortbewegung im Wasser und bis in den Leistungssport bedeutsam. Unser Test soll den Blick auf die entscheidenden Knackpunkte des Lernprozesses richten, der als Grundlage fachkompetenterLehre dient.
Gibt es dann bald ein weiteres Abzeichen für diejenigen, die den Test komplett geschafft haben?
Staub: Nein, das Ablegen von Abzeichen ist total motivierend, aber sie sind nicht als Diagnostik-Tool geeignet. Wenn der Unterricht ausschließlich auf das Ablegen der Abzeichen ausgerichtet ist, wird er schnell schwimmlastig und damit oft eintönig: Die Kinder schwimmen nur noch Bahnen, um die vorgegebene Zeit oder Strecke zu schaffen. Das führt nicht zu einer verbesserten Wassersicherheit. Dagegen sind Kinder, die unseren Test komplett bestehen, so wendig im Wasser, dass sie easy die Abzeichen schaffen können. Und gleichzeitig sind sie so sicher imWasser, dass sie auch auf unvorhergesehene Situationen reagieren können. Damit ist die Grundlage gelegt die (Unter-)wasserwelt in all seinen Formen erleben zu können.
Das Interview führte Volker Schulte