Buchcover: "Täuschend echt" von Charles Lewinsky

"Täuschend echt" von Charles Lewinsky

Stand: 14.02.2025, 07:00 Uhr

Ein gescheiterter Werbetexter findet Zuflucht im Spiel mit Künstlicher Intelligenz und schreibt eine packende Geschichte, die zum Bestseller wird. Charles Lewinskys unterhaltsamer Roman handelt nicht nur von und über KI – er nutzt sie auch. Eine Rezension von Oliver Nowack.

Charles Lewinsky: Täuschend echt.
Diogenes, 2024.
352 Seiten, 23 Euro.

"Ich bin langweilig. Sagt sie."

Sie, das ist Sonja, die Frau, mit dem der Ich-Erzähler in Charles Lewinskys neuestem Roman zusammen war. Inzwischen hat sie sich von ihm getrennt, hat seine Kreditkarte gestohlen, ist nach Bali geflogen und hat nur die große Schlange im Terrarium zurückgelassen. Auch sonst ist der Enddreißiger nicht wirklich glücklich. Trotz eines neuen Arbeitsvertrags und mehr Gehalt. Er hat genug davon, Werbetexte für Müsli-Produkte zu schreiben:

"Ich hasse Müsli. Ich hasse Müsli mit Früchten, und ich hasse Müsli mit Nüssen. Ich hasse es crispy, und ich hasse es crunchy. Ich hasse Müsli. Amen."

Aus dieser Monotonie heraus beginnt der namenlos bleibende Ich-Erzähler, mit Künstlicher Intelligenz zu experimentieren. Anfangs sind es nur Texte über die Ex. Rachefantasien. Aber dann wird er gekündigt, weil er auch für seine Werbetexte KI eingesetzt hat. Doch niedergeschlagen ist der gescheiterte Ich-Erzähler mitnichten. Er findet Zuflucht im Spiel mit der KI. Und plant, sie eine Geschichte schreiben zu lassen. Dabei weiß er schon genau, was er möchte:

"Was für eine Geschichte soll es werden? Auf jeden Fall eine Story, in der viel passiert. Abenteuer. […] Es muss alles möglich sein. […] Eine Lebensgeschichte. Natürlich mit einer erfundenen Figur im Mittelpunkt. Von der Kindheit bis… Bis dort, wo sie zu Ende ist. Die Hauptfigur ist eine Frau. Die nicht sie ist, aber doch sie. Auch wenn sie nichts mit ihr gemeinsam haben darf. Aber das werde nur ich wissen."

Die Antworten von ChatGPT, neuroflash und Co. auf die Prompts, also die Anweisungen des Ich-Erzählers, sind im Roman Wort für Wort kursiv gesetzt. Dasselbe gilt für Texte aus dem Internet, die der Ich-Erzähler beim Recherchieren nutzt. Zwar sind die KI-generierten Text-Passagen meist klischeehaft (weswegen der Ich-Erzähler oft mehrmals mit der KI interagiert, bis sie ihm das gewünschte Ergebnis liefert). Doch die KI-Texte stören den Lesefluss des Romans nicht.

Im Gegenteil: gerade dadurch bringt Lewinsky die originelle und ironische Stimme seines Ich-Erzählers und das Zusammenspiel zwischen Mensch und KI nur noch mehr zum Glänzen. Aus seiner ursprünglichen Rachefantasie gegen die Ex wird für den Ich-Erzähler im Laufe der Geschichte ein handfestes Romanprojekt – dank der Unterstützung eines reichen Bekannten seiner Nachbarin Belle:

"Frank will Menschen, die etwas Wichtiges zu sagen haben, eine Plattform geben, wie er das nennt. Die Übersetzer-App, die leider immer noch niemand erfunden hat, würde es so zusammenfassen: Er will die Welt retten. ‚Belle meint, Sie seien genau der Mann, den wir dazu brauchen‘, sagte er. ‚Jemand, der populär denken kann. […] Der weiß, wie ein Text gestaltet werden muss, damit er wirkungsvoll ist.‘"

Das Ergebnis wird zu einem gefeierten Bestseller. "Angst!", der 'Roman im Roman‘, erzählt mitreißend von der angeblich wahren Geschichte der jungen Afghanin Schabnam. Doch diese Geschichte ist ebenso erfunden wie die vermeintliche Autorin. "Täuschend echt" ist daher nicht nur ein Roman von und mit Künstlicher Intelligenz. Sondern auch über sie. Er macht deutlich, wie täuschend echt und authentisch KI Kunst produzieren kann. Dazu passt auch, dass der menschliche Protagonist bis zum Ende namenlos bleibt. Anders die KI, die für den Ich-Erzähler zu einer engen Vertrauten wird:

"Ich habe beschlossen, ihr einen Namen zu geben. Schließlich sind wir Kollegen. KI. Kirsten. Wir sind ein gutes Team […]."

Über alle Seiten hinweg liest sich förmlich die Freude heraus, die auch Autor Charles Lewinsky beim Schreiben und dem Austoben mit KI gehabt haben muss. So lässt er die Künstliche Intelligenz durch seinen Protagonisten beispielweise Mosel-Weinsorten erfinden:

"Ich habe sie nach weiteren katholischen Weinen gefragt, und sie erwies sich als äußerst fantasievoll […]. Piesporter Gnadenkapelle. Cochemer Kreuzweg. Bernkasteler Himmelstor. Wehlener Engelsflug. […] Neumagener Engelstropfen. Kinheimer Kreuzabnahme."

Auch dramaturgisch zieht Lewinsky vor allem im zweiten Teil von "Täuschend echt" einige Register: Die erfundene Autorin Schabnam soll im Fernsehen interviewt werden und die Ex des Ich-Erzählers taucht aus dem Nichts auf und kommt ihm auf die Spur. Doch besonders eines macht der Roman deutlich: Kirsten – äh, KI – ist nicht das Ende von Werbetextern, Autoren und Kunstschaffenden.

Der – und das soll nicht unerwähnt bleiben – 78jährige Charles Lewinsky lässt sich das Schreiben jedenfalls nicht nehmen. Im Gegenteil: Er hat ein hochaktuelles und lesenswertes Stück Literatur geschaffen und zeigt auf sehr originelle Weise, wo die Möglichkeiten und Grenzen von Künstlicher Intelligenz liegen.