"David Copperfield" von Charles Dickens
Stand: 19.12.2024, 07:00 Uhr
Charles Dickens‘ Roman "David Copperfield" ist ein Klassiker der Weltliteratur und schlägt das Lese-Publikum noch heute in seinen Bann. Jetzt hat Reinhard Kuhnert das Werk in einer Neuübersetzung vollständig als Hörbuch aufgenommen. Eine Rezension von Christoph Vratz.
Charles Dickens: David Copperfield (Hörbuch)
Gelesen von Reinhard Kuhnert.
Argon Verlag, 2024.
Download, 36 Std. und 29 Min. Laufzeit, ca. 40 Euro.
Wenn er zu seiner Geschichte in der Ich-Perspektive anhebt, wirkt David Copperfield vom ersten Moment an liebenswürdig und etwas naiv. Auch einen gewissen Hang zur Ironie kann man ihm sicher nicht absprechen.
"Um mein Leben mit dem Beginn meines Lebens zu beginnen, verzeichne ich, dass ich (wie ich erfahren habe und annehme) an einem Freitag um zwölf Uhr nachts geboren wurde. Es wurde gesagt, gleichzeitig habe die Uhr zu schlagen und ich zu schreien begonnen."
Leicht hat es der junge David nicht, gleichsam von Geburt an.
"Ich wurde in Blunderstone in Suffolk geboren oder «irgendwo dort», wie man in Schottland sagt. Mein Vater war vor meiner Geburt gestorben. Seine Augen hatten sich vor dem Licht der Welt geschlossen, sechs Monate bevor meine sich öffneten."
Rückschläge unterschiedlicher Art lassen, wie so oft in den Romanen von Charles Dickens, auch bei David Copperfield nicht lange auf sich warten. Doch David bewahrt sich eine gewisse Einfalt und eine geradezu entwaffnende Ehrlichkeit.
"'Ist das der kleine Herr aus Blunderstone?' 'Ja, Ma’am', sagte ich. 'Der Name?', fragte die Frau. 'Copperfield, Ma’am', sagte ich. 'Das passt nicht', erwiderte die Frau. 'Für jemanden dieses Namens ist kein Essen bestellt und bezahlt worden.'"
Copperfield torkelt ungewollt zunächst von einem Elend ins nächste, lernt die Not und ungerechte Behandlung durch miese Mitmenschen kennen. Zuflucht bieten ihm etliche Bücher:
"Mein Vater hatte in einem kleinen Zimmer im oberen Stock, zu dem ich Zugang hatte (denn es lag neben meinem Zimmer), eine kleine Sammlung von Büchern hinterlassen, die niemand in unserem Haus jemals anrührte. Aus diesem gesegneten kleinen Zimmer kamen Roderick Random, Peregrine Pickle, Humphrey Clinker, Tom Jones, der Landpfarrer von Wakefield, Don Quixote, Gil Blas und Robinson Crusoe heraus, eine wunderbare Schar, um mir Gesellschaft zu leisten. Sie hielten meine Phantasie am Leben und meine Hoffnung auf etwas über diesen Ort und diese Zeit hinaus – sie, und die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht."
Melanie Walz hat Charles Dickens Roman neu übersetzt. Sie meidet jeden betulichen Ton und findet eine sehr unmittelbare Sprache. Bei den Passagen, in denen Dickens seine Figuren mit ausgewähltem Dialekt sprechen lässt, hat Walz – nach eigenen Worten – sich "darauf beschränkt, ein leicht umgangssprachlich codiertes Deutsch" zu verwenden. Das entlastet auch den Sprecher des neuen Hörbuches, Reinhard Kuhnert, selbst Autor von Erzählungen und Romanen, dazu Regisseur und Schauspieler.
Wo in früheren Jahren ein Hans Paetsch bei seinen Dickens-Lesungen oft ins Bayerische gewechselt ist, um die Dialekte des englischen Originals zu betonen, bleibt Kuhnert der hochdeutschen Aussprache treu. Kuhnerts Vortrag ist geprägt von seiner warmen, sonoren Stimme, der er bei direkter Rede zusätzlichen Nachdruck verleiht, etwa bei den Worten von Mr Peggotty.
"'Hören Sie, Ma’am', erwiderte er langsam und ruhig, 'Sie wissen, was es heißt, sein Kind zu lieben. Und so ist es mit mir. Wäre sie hundertmal mein Kind, könnte ich sie nicht mehr lieben. Sie wissen nicht, was es heißt, sein Kind zu verlieren. Ich weiß es. Aller Reichtum der Welt würde mir nichts bedeuten (wenn ich ihn hätte), sie zurückzubekommen!'"
Kuhnerts Stimme klingt mal knorrig und rau, mal wirkt ihre Wärme sehr nahbar, einfühlsam, mitunter sogar zärtlich. Ironie schwingt bei mit, wo geboten, aber sie wirkt aber nie plakativ. Gleichzeitig gelingt es Kuhnert, den Erzählfluss dieses Romans mit seinen über tausend Seiten (oder mehr als 36 Stunden Lese-Zeit) so zu gestalten, dass kein Moment Langeweile entsteht – bis zum finalen Moment, wenn der erwachsene David das Projekt seiner Erzählung abschließt:
"Ich wende den Kopf und sehe es in wunderschöner Gelassenheit neben mir. Meine Lampe wird bald erlöschen, und ich habe bis tief in die Nacht geschrieben, doch die geliebte Gegenwart, ohne die ich nichts wäre, leistet mir Gesellschaft."
Charles Dickens Roman "David Copperfield" zeigt sich in der neuen Übersetzung von Melanie Walz und in der vollständigen Hörbuch-Fassung mit Reinhard Kuhnert als das, was er ist: ein Klassiker im besten Sinne.