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"Von dem, der bleibt" von Matteo B. Bianchi
Stand: 07.02.2025, 07:00 Uhr
Der Selbstmord ist immer noch ein Tabuthema, über das man lieber schweigt. Darum gibt es bis heute kaum Hilfsangebote für Angehörige von Suizid-Toten. Matteo B. Bianchi plädiert in seinem großartigen Überlebensbuch für eine Überwindung des Stigmas. Eine Rezension von Gisa Funck.
Matteo B. Bianchi: Von dem, der bleibt
Aus dem Italienischen von Amelie Thoma.
dtv, 2024.
304 Seiten, 24 Euro.
Es ist wohl das Schlimmste, was einem Mensch widerfahren kann: Man wird Zeuge, wie ein geliebter Angehöriger sich aus Verzweiflung das Leben nimmt. Der 1966 geborene und in Mailand beheimatete Autor Matteo B. Bianchi hat genau diesen Alptraum durchlitten. Im November 1998 fand er seinen Lebenspartner, der im Buch nur "A." bezeichnet wird, nach Büroschluss erhängt in der gemeinsamen Wohnung auf:
"An jenem Abend (…) gehe ich raus auf den Balkon und beginne im Hof und in Richtung Treppenaufgang zu schreien: „Hilfe. Hilfe.“ (…) Nach ein paar Minuten kommt jemand. Drei Männer aus dem Haus. Ich sehe die Bestürzung auf ihren Gesichtern, das Entsetzen. (…) Sie legen den Leichnam auf den Boden und sehen mich an wie Leute, die nichts weiter tun können. (…) Wir bleiben allein, A.s Leiche und ich, bis die Sanitäter kommen."
Drei Monate vorher hatte sich Bianchi von seinem Freund nach sieben Jahren Beziehung getrennt. Umso quälender machte er sich hinterher Schuldvorwürfe – und gibt im Buch offen zu, dass er ebenfalls selbstmordgefährdet war:
"Wenn dir eine solche Tragödie widerfährt, dann willst du nur noch Schluss machen. Dich von allen und allem entfernen, der Qual auf einen Schlag ein Ende setzen. Und genau das ist das Einzige, was du nicht tun kannst."
Über zwanzig Jahre lang hat Matteo Bianchi danach gebraucht, um sein Aufarbeitungsbuch des Traumas zu veröffentlichen. Das Resultat könnte man nun als Notizsammlung bezeichnen. Oder genauer gesagt: Als eine Mischung aus Tagebuch, Lebensrückblick, Gedankenprotokoll und journalistischem Recherchebericht. Leidenschaftlich plädiert Bianchi darin für eine Enttabuisierung des Selbstmords. Denn als Angehöriger eines Suizid-Toten hat er sich lange schrecklich allein und ausgegrenzt gefühlt:
"Warum fühlt sich jemand, der den Suizid einer geliebten Person überlebt, noch immer hoffnungslos allein, als wäre er der Einzige, dem das passiert? (…) Nur achtunddreißig Länder auf der ganzen Welt verfügen über Präventionsprogramme gegen Suizid. In den übrigen wird das Problem weiter ignoriert."
Für den sogenannten Suizid-Überlebenden Bianchi war es nach 1998 dann sehr mühsam, bis er erst nach vielen Jahren jene Psychiater, TherapeutInnen – und schließlich Leidensgenossen einer Selbsthilfegruppe fand, die ihm in seiner Not weiterhalfen. Alle vierzig Sekunden, so rechnet er vor, begeht ein Mensch statistisch gesehen weltweit Selbstmord. Trotzdem werde das Massenphänomen immer noch verdrängt oder geächtet – und ließe man Hinterbliebene von Suizid-Toten in ihrem Leid zu oft im Stich. Eine Jahrtausende alte Stigmatisierungspraxis, die Bianchi nun endlich durchbrechen will:
"Ich schreibe dieses Buch unter anderem, weil ich damals so ein Buch hätte lesen wollen, eines über den Schmerz derer, die zurückbleiben."
Und tatsächlich: Matteo Bianchi gelingt es in "Von dem, der bleibt" beeindruckend, einerseits offenherzig und anschaulich vom Prozess seiner Trauma-Bewältigung zu erzählen, ohne dabei jedoch andererseits allzu sehr ins Gefühlige oder gar Opfer-Pathetische abzugleiten. Man merkt seinem Buch wohltuend den langen Zeitabstand an.
Quasi tastend und teilweise durchaus gefühlvoll-poetisch schildert der Autor hier seinen schwierigen Weg zurück ins sogenannte Normalleben. Umkreist sein Martyrium immer wieder neu aus unterschiedlichen Perspektiven, bis sich ein Gesamtbild zusammensetzt, bei dem notwendig Fragen offenbleiben. Ganz bewusst verschweigt Bianchi dabei auch nicht eigene Verhaltensfehler und Rückschritte.
Denn er möchte mit seinem großartigen Überlebensbuch eben gerade nicht einen weiteren Beitrag zur ewigen Schulddebatte um den Selbstmord liefern, sondern stattdessen für einen verständnisvolleren, weniger moralischen Blick aufs Thema werben. Und dazu gehört für ihn auch eine selbstkritische Hinterfragung des eigenen Opferstatus. Von daher betont Bianchi gleich mehrfach, wie wichtig zur Überwindung seines Traumas nicht nur die Hilfe von außen war, sondern auch seine eigene, innere Bereitschaft, sich aus der selbstzerstörerischen Spirale der Schuldgedanken zu befreien:
"Ist es möglich, einfach zu sagen: genug gelitten, jetzt fange ich wieder an zu leben? Bei mir war es so. Als würde man einen Schalter umlegen. Ich habe auf 'Ein' geschaltet, und die Lichter gingen wieder an."