"Zeitpfade" von Anne Michaels
Stand: 05.11.2024, 07:00 Uhr
Liebe, Erinnerung und die Grenzen der Wissenschaft: In "Zeitpfade" verwebt Anne Michaels kunstvoll die Schicksale mehrerer Generationen. Poetische Prosa und rätselhafte Schönheit verbinden sich zu einem aufregenden Puzzlespiel der Erinnerungen. Eine Rezension von Oliver Pfohlmann.
Anne Michaels: Zeitpfade
Übersetzt von Patricia Klobusiczky.
Berlin Verlag, 2024.
208 Seiten, 24 Euro.
In Anne Michaelsʼ neuem Roman heißt es von einer Figur, sie möge Bücher, die irgendwo in der Mitte beginnen – schließlich könne auch im richtigen Leben jeder beliebige Moment zu einem neuen Anfang führen. Ein berückender Gedanke, der nicht zufällig zugleich die Poetik von Michaelsʼ neuem Roman charakterisiert. Denn auch „Zeitpfade“, so sein Titel, beginnt in der Mitte, und zwar immer wieder neu: Er erzählt eine Familiensaga in Fragmenten und umfasst ein ganzes Jahrhundert, springt dabei aber durch Raum und Zeit.
Jedes seiner zwölf Kapitel setzt an einer anderen Stelle an, erzählt von anderen Figuren, deren Verbindungen untereinander man sich erst erschließen muss. Alle Kapitel sind aus Prosapassagen zusammengesetzt, die durch Leerzeilen voneinander getrennt sind. Das verlangsamt die Lektüre, macht sie zu einem aufregenden Puzzlespiel. Viele dieser Fragmente sind, wie Gedichte, von einer rätselhaften Schönheit und gedanklichen Tiefe, dass man sie sich am liebsten aufschreiben möchte.
"Maras Erfahrung nach war das Übernatürliche nichts anderes als die Präsenz des Guten, die Liebe, die sich vom Leichnam freibrennt; es ist immer die Liebe, die dem Wüten der Menschheit zu entkommen versucht."
Die Liebe und die Macht der Erinnerung gehören seit ihrem Sensationsdebüt „Fluchtstücke“ von 1996 zu den zentralen Themen von Anne Michaels, um sie geht es auch im neuen Roman der 66-jährigen kanadischen Lyrikerin und Autorin. Und darüber hinaus um die Gegensätze von Körper und Seele, Naturwissenschaft und Mystik, Zufall und Bestimmung. So etwas wie eine zusammenhängende Handlung gibt es allenfalls in Ansätzen. Im ersten Kapitel liegt John, ein englischer Soldat, 1917 schwer verwundet auf einem französischen Schlachtfeld. Er erinnert sich an die Frau, die er liebt, an ihre erste Begegnung in einem eingeschneiten Gasthaus – und bittet das Schicksal um eine andere Art zu sterben.
"Früher hatte er den Tod durch Ertrinken nie für sanft gehalten. Aber vielleicht wäre das Meer doch der beste Ort zum Sterben. Das Meer, wo, der Erinnerung gleich – wie er einmal notiert hatte –, die Flüchtigkeit der Form die Form selbst ist."
Das zweite Kapitel spielt drei Jahre später; John hat überlebt, ist aber schwer gezeichnet. Mit seiner Frau Helena betreibt er ein Fotostudio, porträtiert andere Veteranen mit ihren Familien. Bis irgendwann geisterhafte Gestalten auf diesen Fotos auftauchen – ein heilsames Zeichen der Toten aus dem Jenseits oder der Schwindel seines Assistenten? Am Ende dieses Kapitels ertränkt sich John im Fluss, doch seine Frau ist schwanger – mit Anna, die sich im nächsten Weltkrieg als Krankenschwester um Verwundete kümmern wird. Genau wie deren Tochter Mara, die sich in den 1980er Jahren als „Ärztin ohne Grenzen“ inmitten der Ruinen einer zusammengebombten Stadt in den Kriegsreporter Alan verliebt. Lauter starke, faszinierende Frauenfiguren also, wie auch die Physikerin Marie Curie, der in späteren Kapiteln eine mysteriöse Nebenrolle in dieser komplexen Familiengeschichte zukommt.
Apropos Physik: Über die Entdeckungen der Naturwissenschaft, ihre Schönheit und Grenzen, lässt die Autorin ihre Figuren immer wieder grübeln, ob es um Darwins Evolutionstheorien geht, die damals neue Entdeckung der Röntgenstrahlen oder die Fotografie. Letztere könne sogar, erfährt eine der Protagonistinnen, bei entsprechend langer Belichtung alles sich Bewegende zum Verschwinden bringen. Das hieße,
"dass man eine lange Belichtung vornehmen konnte – etwa dreißig Jahre Ehe oder das Familienleben, das sich in einer Küche abspielte, Säuglinge, die zu Erwachsenen wurden – und die Fotoplatte nichts anderes zeigen würde als einen leeren Raum. Er wäre aber nicht leer, sondern voller Leben, so real wie unsichtbar."
Auch Anne Michaelsʼ Roman ist, trotz aller Lücken und Leerstellen, trotz aller Momente voller Tod und Gewalt, voller Leben. Und wirkt am Ende selbst wie ein dreidimensionaler Raum, in dem man von einer dieser Prosascherben zur nächsten springen und immer neue Verbindungen ziehen kann. 14 Jahre musste ihre Leserschaft auf diesen Roman warten, wie es, kaum zu glauben, überhaupt erst ihr dritter in drei Jahrzehnten ist. Niemand schreibt langsamer – und wohl auch sorgfältiger – in der Weltliteratur als Anne Michels. Doch das Warten hat sich gelohnt.