Sarah Pines: Der Drahtzieher
Diogenes, 2024.
320 Seiten, 24 Euro.
Theodor Hasselt ist ein Drahtzieher. Und zwar wortwörtlich: Der Titelheld in Sarah Pinesʼ Debütroman ist der Erbe des größten Drahtzieherunternehmens im Sauerland. Im Jahr der Handlung 1926 werden hier in der westfälischen Provinz die Kabel und Drähte für die Elektrifizierung der Welt gefertigt. Zu Romanbeginn macht der Industrie-Magnat Geschäfte im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika. Beim Besuch seiner ausgewanderten Verwandtschaft verfällt er den Reizen seiner Cousine Alba. Als die behauptet, von ihm schwanger zu sein, nimmt Theodor, der passionierte Jäger, sie kurzerhand mit ins heimatliche Sauerland, als besonders exotische Trophäe sozusagen.
"Im Sauerland, so hatte er es sich vorgestellt, würde er mit Alba die Pfade seiner Welt beschreiten, er der Häuptling, nur dass er keine bunten Umhänge trug wie afrikanische Dorfchefs. […] Auf Straßen, Gehwegen, ja, auf dem gesamter Iserlohner Asphalt würde er sie herumzeigen, alle würden sie bestaunen, ohne sie anzufassen, als sei sie ein verdammtes Kunstwerk."
Soweit der Plan des Patriarchen. Nur dass Alba gar nicht schwanger ist und wenig Lust hat, Theodors alleiniger Besitz zu sein – auch wenn sie den harten Sex mit dem besitzergreifenden Fabrikanten durchaus zu genießen weiß. Bald nach ihrer Ankunft beginnt sie eine Affäre mit Albert, Theodors Freund und Geschäftspartner. Theodor, gekränkt in seiner Männlichkeit, kann zwar nichts beweisen, rast dafür aber umso mehr vor Eifersucht und Wut. In der Folge verliert er mehr und mehr die Kontrolle, über sein Leben ebenso wie über seine Firma. Obwohl er sich eigentlich gar nicht beschweren dürfte: Denn nicht nur, dass er sich mit Albert seit jeher kameradschaftlich die Prostituierten teilt; er betrügt Alba – und Albert – selbst, nämlich mit dessen Verlobter Marthe.
"Er liebte Marthes Fleisch, ihren Geschmack, die mal dunkleren, mal hellen Melierungen ihrer Haut, ihren wie im Todeskampf durch malmende Kiefer gestoßenen Schweißatem. Wäre es ihm zu verdenken gewesen, hätten seine Stöße ihre Knochen gebrochen?"
Erzählt Sarah Pines hier also von einer "Mehrfachaffäre" in elitären Kreisen? Ja, aber nicht nur. Denn vor dem Hintergrund der polyamoren Verstrickungen liefert der Romanerstling der in New York lebenden deutschen Journalistin ein schillerndes Porträt einer ganzen Klasse, des deutschen Großbürgertums in den angeblich so Goldenen Zwanziger Jahren. Also zu einer Zeit, als dieses sich vorrangig um sich selbst drehte, ohne das heraufziehende faschistische Unheil zu bemerken.
Vor allem aber ist "Der Drahtzieher", so der Titel, das bis ins letzte komisch-ironische Detail ausbuchstabierte Psychogramm eines Möchtegern-Patriarchen, der vergeblich um seine Autorität und Besitzansprüche kämpft, während die Klassen- und Geschlechterverhältnisse längst ins Rutschen geraten sind. Letzteres ist, in aller Bescheidenheit sozusagen, auch der Anspruch des Romans.
"Will man also begreifen, wie und wann sich das Schicksal des Patriarchats erfüllen wird, so könnte es nützlich sein, zuvor die Kultur des Sauerlandes in den Jahren nach dem ersten großen Krieg, das Leben der dem Untergang geweihten einzelnen Stände und Schichten zu erfassen und zu überlegen, in welchem Verhältnis es zum restlichen Leben in Deutschland stehen könnte."
Einlösen kann Pines‘ Roman diesen Anspruch aber nur zum Teil. Zu überambitioniert und hochgedreht sind Sprache und Anliegen der Autorin, zu langatmig zudem die Handlung. Keine hundert Seiten und das Interesse an der kapriziösen, drogensüchtigen Alba ist gründlich erloschen, wenn nicht bei Theodor, so zumindest beim Rezensenten. Im Unterschied zu der nach allen zeitgenössischen Geschlechterstereotypen von der Femme fatale gezeichneten Cousine ist ihre Rivalin Marthe, ein sympathisch unabhängiger Kopf, ungleich faszinierender; doch ist sie leider eben nur eine Nebenfigur.
Das Interessanteste und Originellste an Pinesʼ Roman ist jedoch die auktoriale Erzählerstimme: Sie ist nämlich wirklich "allwissend". Vor allem aber präsentiert sie sich in ihren Anspielungen und Verweisen, sei es auf den Holocaust, auf Romy Schneider oder die #Metoo-Bewegung, als Person unserer Zeit. Das macht Sarah Pinesʼ „Der Drahtzieher“ zum bemerkenswerten Beispiel eines historischen Romans, der gern die Illusion der Zeitebenen durchbricht – und seine Leserschaft an seinen Status als artifizielles Produkt erinnert.