"Unterwegs in der Verformung" von Ron Winkler

Stand: 24.10.2024, 07:00 Uhr

Zwischen Krieg und Kindergeschrei: Ron Winkler wagt in seinem neuen Gedichtband Unterwegs in der Verformung den Blick ins Private, ohne die weite Welt dabei aus den Augen zu verlieren. In liebevollem Ton und mit einem Beobachtungswillen, der unter die Oberflächen dringt, beschenkt uns der Dichter mit einer Metamorphose der ganz besonderen Art. Eine Rezension von Julia Trompeter.

Ron Winkler: Unterwegs in der Verformung
Schöffling & Co., 2024.
96 Seiten, 22 Euro.

"Unterwegs in der Verformung" von Ron Winkler Lesestoff – neue Bücher 24.10.2024 05:15 Min. Verfügbar bis 24.10.2025 WDR Online Von Julia Trompeter

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Die Metamorphose ist von der Antike bis zum heutigen Tag ein Grundmotiv der Dichtkunst. Auch das lyrische Ich in Ron Winklers neuem Gedichtband ist in einer solchen unterwegs. Selten ist es einem Lyriker gelungen, die Verschränkung von Privatem und Welt so offen und liebevoll abzubilden. Die "Verformung" beginnt im nordwestlichsten Zipfel Frankreichs, Finistère, wiewohl der eigentliche Ort, an dem das lyrische Ich und seine Familie sich befinden, schwer zu fassen ist. Denn alle Wahrnehmung wird vom Kriegsgeschehen in der Ukraine dominiert:

"Nach all den Tagen kann ich immer noch nicht sagen,
wie groß ein Gedicht sein muss für das.
Das Barbarische, das Unmenschliche, das Perverse, das Perfide.
Ein Gedicht? Für das?
Es wird vielleicht ohnehin schon bald begraben.
[...]
Tote bei und Tote durch und Tote mit. Und Tote in und Tote wegen.
Die Weltkarte zeigt nur noch Ukraine. Das Wetter: Ukraine."

Mit dem Begriff ‚Geworfenheit‘ beschrieb Martin Heidegger die Unausweichlichkeit des Daseins des in die Welt geworfenen Menschen. Auch das Ich in Winklers Gedichten ist ein geworfenes: Das Thema Krieg infiltriert den Alltag, die Familie, den Blick aufs Kind, den Körper, macht selbst vor Gott und dem Gedicht nicht halt:

"Das Muttermal auf meiner linken Wange hat die Form eines zerstörten Landes.
Alles, was mein Kind seit März aus Legosteinen baut, ist Ukraine.
Ist blau, ist gelb, ist Ukraine. Blau wie Ruß und gelb wie Blut.
[...]
Und alle Buchstaben sind überfallen und alle Gefühle wurden überfallen
und alle Gewissheit ist überfallen und Gott ist überfallen.
Und das Gedicht ist überfallen.
Es hat kein Alphabet für einen Gegenangriff.
Nur Räume, ungewisse Räume.
In denen ich nicht die Friedenstaube bin."

In den Gedichten verformt sich die Welt: Makro- und Mikrokosmos verschmelzen. Nicht nur der Mann in seiner väterlichen Identität, sondern auch die Sprache verwildert in diesem Band. Und so hat man bisweilen seine liebe Mühe, den immer absurderen Begriffs- und Gedankensprüngen zu folgen:

"Ist das ein Stichwort, Vaterwildnis? [...].
Und wo ich gestützt auf Kissen auf die Straße schaue
und wo ich gestützt auf Kissen aus dem Flugzeug schaue,
aus dem internationalen Kissenlager einer Raumstation,
und wo ich dank dir nicht mehr in universumsgroßer Einsamkeit
aus meinen Chromosomen schaue."

Doch es spricht nicht nur Verwilderung und Verwirrung, sondern vor allem auch viel Liebe aus diesen Zeilen. Ohne Pathos und romantische Aufladung schlägt sich in vielen Gedichten sowohl väterliche als auch partnerschaftliche Zärtlichkeit nieder. Und den beängstigenden, realpolitischen Beginn konterkarierend, wird der Blick nun auf das ganz Nahe gerichtet, setzt sich mehr und mehr der glaubhaft zuversichtliche Ton des "Utopieanrainers" durch:

"Weißt du eigentlich, dass deine Küsse eine Lösung sind?
Es gibt den Raum. Es gibt die Zeit. Und es gibt diese sehr spezielle Lösung.
Ich würde dein Europa mit geschlossenen Augen noch erkennen.
Selbst unter meinem nie ganz aufgelösten Restbestand an Tränen,
Schnaufen, Keuchen, Karcheln, Röcheln, Japsen, Hecheln, Schniefen.
Die Eintagesnarben.
Wie er unverwandt die Seiten wechseln kann von
mütterlicherseits zu väterlicherseits.
Wo war ich, der Utopieanrainer, stehen geblieben?"

Ron Winkler wagt in seinem neuen Gedichtband den Blick ins Private ohne die Welt zu ignorieren. Dabei nimmt er die LeserInnen mit in einen gewohnheitsmäßig weiblich konnotierten Kosmos, in dem "Kinderwünsche Konten leeren", und "stundenlanges Kreischen bis ins Mark betört". Winklers Blick auf die Vaterschaft besticht durch Sensibilität und Aufrichtigkeit. Ein großes Lesevergnügen für alle, die ihren Nachwuchs ebenso lieben wie die deutsche Sprache.