Buchcover: "Radio Sarajevo" von Tijan Sila

"Radio Sarajevo" von Tijan Sila

Stand: 08.09.2023, 07:00 Uhr

Tijan Sila kam einst als Kriegsflüchtling nach Deutschland. Nun erzählt er vom Aufwachsen im belagerten Sarajewo. Eine Rezension von Andreas Wirthensohn.

Tijan Sila: Radio Sarajevo
Hanser Berlin, 2023.
175 Seiten, 22 Euro.

"Radio Sarajevo" von Tijan Sila

Lesestoff – neue Bücher 08.09.2023 05:01 Min. Verfügbar bis 07.09.2024 WDR Online Von Andreas Wirthensohn


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Der Krieg wütet weiter

Furchtbare 1425 Tage dauerte die Belagerung Sarajewos durch serbische Truppen, und nach offiziellen Angaben fielen den Kämpfen rund 10 000 Menschen zum Opfer, unter ihnen 1601 Kinder. Durch Artilleriebeschuss, Minen oder Scharfschützen wurden rund 50 000 Menschen teilweise schwer verletzt. So gesehen hatten Tijan Sila und seine Familie Glück, dass sie dieser Hölle 1994 zumindest äußerlich unbeschadet entkamen.

Doch in den Köpfen und Seelen der Eltern und der Kinder wütete der Krieg weiter. 2008 muss der Sohn seine Mutter wegen dissoziativer Episoden in die Psychiatrie bringen; der Vater empfindet sein Leben seit der Flucht aus der Heimat als, so wörtlich, "Havarie". Und der junge Tijan hört einfach auf zu weinen:

"Vom Juni 1992 bis zum Oktober 2007 vergoss ich keine einzige Träne. Ich verbot sie mir selbst nach dem Tod eines geliebten Menschen, etwa, als ein Freund verunglückte oder Oma Nadežda starb. Und dieser Akt der Selbstbeherrschung bereitete mir eine seltsame Lust. Dass der Mensch sich an jede Qual gewöhnt, stimmt nämlich. Es stimmt jedoch auch, dass es eine Qual ist, sich wieder zu entwöhnen. Also verbrachte ich Jahre damit, meine Gefühle niederzukämpfen und mir dabei einzureden, dass ich auf diese Weise meine Willenskraft unter Beweis stelle."

Vom Erleben zum Überleben

Die posttraumatischen Seelenzustände werden in diesem Buch nur angedeutet. Im Zentrum steht das Erleben des Krieges und damit die Entstehung dieser Traumata: das völlig unvorbereitete Hineinstolpern in einen Daseinszustand, der das bisherige Leben auf den Kopf stellt.

Die Mutter muss, statt an ihrer Promotion zu arbeiten und an der Uni zu unterrichten, Teigbällchen backen; der Vater, ein schmächtiger Bibliothekswissenschaftler, soll sich jetzt auf diversen Schwarzmärkten beweisen und wird von den Nachbarn verachtet, weil er nicht kämpfen will; und der Sohn kümmert sich um seinen kleinen Bruder, wenn er nicht gerade mit seinen Freunden durch die Gegend zieht, wo sie nach Verwertbarem suchen und später dann UN-Soldaten mit pornografischem Material versorgen.

Der Junge bekommt seine ersten Toten zu Gesicht, die zum Teil grausam verstümmelt sind. Urplötzlich ist aus dem Leben ein Kampf ums Überleben geworden:

"Sarajevo kam mir vor wie ein schwarzer Wald, der Tod als ein Jäger, und ich fühlte zum ersten Mal das, was ich erst Jahre später, in Deutschland, in Worte zu fassen schaffte: Ich fühlte, dass zu leben vor allem bedeutete, Grauen auszuhalten."

Das Ich des Verfassers

Tijan Silas Erzählung über seine Kindheit im Krieg trägt keine Gattungsbezeichnung. Das Ich dieses Buches ist diesmal – anders als in Silas bisherigen Romanen – ganz unverstellt das des Verfassers. In einer Schlussbemerkung verweist der Autor denn auch darauf, dass alles in diesem Buch Geschilderte wahr und wirklich passiert sei.

So ganz passt dieser Anspruch allerdings nicht zur Erzählhaltung. Denn Sila wechselt hin und her zwischen der Sicht des Elf- und Zwölfjährigen und der reflektierteren Perspektive des heute Schreibenden, und natürlich sind etwa all die Dialoge der damaligen Freundesclique in gewisser Weise fiktiv.

So ganz fügen sich die beiden Erzählperspektiven nicht ineinander, und auch sprachlich wirkt manches in diesem Buch reichlich konventionell. Was der Klappentext als rau und unverstellt anpreist, hätte man sich an vielen Stellen jedenfalls deutlich literarischer, sprachlich und erzählerisch ambitionierter gewünscht.

Eine Art doppeltes Generationenporträt

Das ist vor allem auch deshalb schade, weil Sila über ein feines Wahrnehmungssensorium verfügt. Besonders eindrücklich zum Tragen kommt das, wenn er das Verhalten der Eltern im Krieg beschreibt und im Grunde eine Art doppeltes Generationenporträt zeichnet:

"In Bosnien wird die Generation meiner Eltern die 'entwurzelte' oder die 'ausgerissene' genannt. Meine Generation aber hat keinen Spitznamen, wir sind die Vergessenen. Ich schrieb dieses Buch auch, um dem Vergessen etwas entgegenzusetzen."

Und so bleiben von diesem Buch vor allem einzelne Szenen in Erinnerung, Momente intensiver Wahrnehmung und schrecklicher Intensität, die ahnen lassen, was dieser Autor alles zu erzählen hat.