Suzumi Suzuki: Die Gabe. Aus dem Japanischen von Katja Busson
S. Fischer Verlage, 2025.
112 Seiten, 22 Euro.
Die Ich-Erzählerin in "Die Gabe", dem kurzen Roman der japanischen Autorin Suzumi Suzuki, bleibt namenlos. Sie arbeitet als Hostess im Rotlichtviertel von Tokio. Sie hat gerade zwei Freundinnen verloren, eine, Mutter eines fünfjährigen Kindes, ist mit einem Mann verschwunden. Die andere, eine Domina, hat sich das Leben genommen. Sie hat so oft davon gesprochen, sich umzubringen, dass es letztlich niemand geglaubt hat.
Die totkranke Mutter der Ich-Erzählerin zieht bei ihr ein, um ein letztes Gedicht zu schreiben. Sie hatte ein paar Bände mit Poesie veröffentlicht. Bekannt als Lyrikerin ist sie nicht. Die Tochter geht weiter Abend für Abend in die Bars, animiert, trifft sich selber mit einem männlichen Host. Eine große Einsamkeit, eine tiefe Traurigkeit umgibt sie alle. Vermutlich gerade deshalb erzählt Suzumi Suzuki sehr nüchtern, fast distanziert von der Mutter-Tochter-Beziehung.
"Sie wolle noch nicht sterben, hatte sie letztes Frühjahr noch gesagt, doch von diesem Willen schien nicht mehr viel übrig zu sein. Letztendlich kehrte sie, ohne auch nur ein einziges Mal ihre Arbeitstasche geöffnet und einen Stift herausgenommen zu haben, nach nur neun Tagen mit Atemnot ins Krankenhaus zurück. Nicht nach ein paar Monaten oder einem halben Jahr. Ich hätte ihr deshalb, denke ich heute, jeden Tag etwas kochen sollen, von dem sie wenigstens ein bisschen hätte essen können."
Die Mutter hat ihr Kind allein großgezogen. Sie verbietet ihr den Kontakt zu ihrem Vater, einem verheirateten Regisseur. Sie ist wunderschön, singt in Bars, trifft Männer, sogar einen, der sich hoffnungslos in sie verliebt und der sie unterstützt. Sie heiratet nie. Sie ist stolz. Die Mutter-Tochter-Beziehung ist alles andere als einfach.
"Auf meinem Oberarm spürte ich noch die Wärme ihrer Hand. Unter der Tätowierung sitzt eine rot-weiß verfärbte Narbe. Eine Narbe, die die Frau, die einmal schön war und sich jetzt mit weniger als der Hälfte ihres Haars durch meine Wohnung schleppt, in meine Haut gebrannt hat."
Die Ich-Erzählerin versucht, sich mit der Mutter zu versöhnen, die ihr Gewalt angetan hat. Sie spürt die Wärme der Hand der Mutter. Ein einziges Mal wird die kalte Distanzlosigkeit des Textes durchbrochen. Die Mutter hingegen betrachtet die Tätowierungen, die ihre Tochter sich über den vernarbten Arm und Rücken hat stechen lassen ohne jede Gefühlsregung.
Völlig emotionslos schildert Suzumi Suzuki diese grausame, aber nicht grundlose Tat. Die Mutter hat ihre eigene Schönheit gehasst. Eine Frau mit Narben, so glaubt sie, könne im Rotlichtviertel nicht arbeiten. Doch genau das wird die Tochter tun.
"Ich verdankte meiner Mutter einen gesunden Körper, eine Verletzung, die den Wert dieses Körpers um die Hälfte reduziert hatte, und Zeit, die ich mit Mitte zwanzig, einem Alter, in dem die besten Jahre einer Frau fast vorbei sind, besser nutzen könnte, als durch die matte Morgenluft zu spazieren."
"Die Gabe" portraitiert eine Gesellschaft, in der alles seinen Preis hat, man alles kaufen kann, alles zum Besitz wird. Vor allem die Körper von Frauen. Die Ich-Erzählerin betrachtet ihren Körper als Objekt,. Sie setzt ihn gekonnt ein.
Der Roman ist nicht chronologisch aufgebaut. Nach und nach und in vielen Rückblenden erfahren wir etwas über die Ich-Erzählerin und ihre Mutter. Viel ist es nicht, vieles soll offen bleiben. In einem jedoch hat die Tochter sich getäuscht, die Mutter hat sehr wohl ein Abschiedsgedicht geschrieben:
"Die Tür fällt laut ins Schloss.
An einer Tür, die ins Schloss fällt, gibt es nichts zu interpretieren.
Schön wäre bloß, sie fiele leise ins Schloss."
Das macht den Roman so interessant: die vielen Leerstellen, die zum Nachdenken anregen und die Darstellung des Alltäglichen, die an Michel Butors Stil des "nouveau roman" erinnern. Die Soziologin und Kolumnistin Suzumi Suzuki kennt das Rotlichtviertel Tokios. Hier hat sie gearbeitet. Viele ihrer Erfahrungen dürften in ihr Buch eingeflossen sein. Nicht zuletzt deshalb ist „Die Gabe“ ist ein sehr ungewöhnlicher, einzigartiger Roman.