
"Joseph und seine Brüder" von Thomas Mann
Stand: 06.02.2025, 07:00 Uhr
Im Juni jährt sich der Geburtstag von Thomas Mann zum 150 Mal. Der Audio Verlag macht einige historische Lesungen seiner Romane mit Gert Westphal wieder zugänglich, darunter auch der Vierteiler "Joseph und seine Brüder". Eine Rezension von Christoph Vratz.
Thomas Mann: Joseph und seine Brüder (Hörbuch)
Gelesen von Gert Westphal.
Der Audio Verlag, 2024.
3 CDs (Laufzeit: 33 Stunden und 37 Minuten), 34 Euro.
Der erste Satz ist fast schon zum geflügelten Wort geworden: "Tief ist der Brunnen der Vergangenheit", gefolgt von der Frage: "Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?" Damit umreißt Thomas Mann zu Beginn seines Roman-Vierteilers "Joseph und seine Brüder" die Herkulesaufgabe, vor der er als Schriftsteller steht: tief einzutauchen in diese unendlich fernliegende, biblische Geschichte.
"Es war jenseits der Hügel im Norden von Hebron, ein wenig östlich der Straße, die von Urusalim kam […]."
Gert Westphals Lesung von "Joseph und seine Brüder" beginnt jedoch nicht mit dem berühmten Eingangssatz, wie überhaupt das komplette "Vorspiel" in diesem Hörbuch fehlt. Denn: Es handelt sich um eine gekürzte Lesung, um eine von Westphal selbst eingerichtete Textfassung. Das mag man bedauern, dient aber sicherlich einer leichteren Nachvollziehbarkeit dieses epischen Werkes. Die erste Figur, der wir in diesem Roman begegnen, ist der junge Joseph am Brunnen:
"Jetzt schien er Andacht zu verrichten, denn, das Gesicht emporgewandt, zum Monde, der es voll beschien, hielt er die beiden Oberarme an den Flanken, die unteren aber aufgerichtet, mit offen nach außen und oben gekehrten Handflächen, und während er sich im Sitzen leicht hin und her schaukelte, gab er halbe, singende Stimme zu Worten oder Lauten, die er mit den Lippen bildete."
Thomas Mann hat seinen Joseph-Roman (oder, besser gesagt: die vier Teile seiner "Tetralogie") innerhalb von 16 Jahren geschrieben, begonnen 1926, beendet im amerikanischen Exil 1943. Es ist, mit Blick auf diese düsteren Jahre deutscher Geschichte, zugleich ein humanistisches Buch voller Ideale und im völligen Gegensatz zu den damals herrschenden Ideologien. Die Hauptfigur, Joseph, wird von Beginn an als Außenseiter dargestellt. Allein sitzt er am Brunnen. Doch der Berufene wird gerufen.
"Aus der Richtung des Hügels und der Wohnungen wurde sein Name gerufen: »Joseph!« [...]. Er hörte den Ruf beim drittenmal, gab wenigstens erst beim drittenmal zu, daß er ihn vernommen habe, und löste rasch seinen Zustand, indem er »hier bin ich« murmelte."
Joseph, der Lieblings-Sohn von Jakob, wird von seinen älteren, missgünstigen Brüdern verkauft; er gelangt als Sklave nach Ägypten und dort durch seine Weitsicht zu Ansehen, Wohlstand und hohen Ämtern. Zwar bringt ihn seine persönliche Integrität ins Gefängnis, doch Joseph kann sich als Traumdeuter vor dem Pharao bewähren.
"»Und was sagst du zu meinen Träumen?« »Deinen Träumen?« erwiderte Joseph. »Deinem Traume, meinst du. Zweimal träumen heißt nicht zwei Träume haben. Du träumtest einerlei Traum.«"
Schließlich erkennt der erstaunte Pharao, was Joseph ihm sagen will:
"»Fette Jahre werden kommen«, sprach er entgeistert, »und sieben der Teuerung.« »Sicher und ohne Verzug«, sagte Joseph [...].« Pharao richtete die Augen auf ihn. »Du bist nicht tot umgefallen nach der Weissagung«, sagte er mit einer gewissen Bewunderung."
Dank seiner Klugheit bewahrt Joseph den Pharao und sein Volk vor einer großen Hungersnot. Am Ende versöhnt er sich auch wieder mit seinen Brüdern.
"»Kinder, ich bin es ja. Ich bin ja euer Bruder Joseph.«"
Die Aufnahme mit Gert Westphal stammt aus den Jahren 1963/64 und wurde in den frühen 1990er-Jahren auf 30 CDs veröffentlicht. Im Gegensatz dazu ist die neue Aufmachung mit drei mp3-CDs deutlich spärlicher: Statt genauer Zuordnung der Kapitelüberschriften sind über die 500 Tracks ohne Orientierungshilfen einfach aneinandergereiht.
Davon abgesehen, ist die Aufnahme jedoch ein Glücksfall: Gert Westphal liest mit so vielen Variablen, dass man ihm jederzeit gebannt lauscht: die Tempowechsel, die unterschiedlichen Farben, der melodiöse, fast musikalische Vortrag, die satzübergreifenden Verbindungen und die plötzlichen Pausen (mitten im Satz) als Mittel der Spannung – all das macht "Joseph und seine Brüder" zu einem Hör-Fest, auch mehr als 60 Jahre nach der Entstehung dieser Aufnahme.