Zehn Prozent der Frauen in Deutschland haben eine Vergewaltigung oder versuchte Vergewaltigung erlebt. Das sagt der Verein "Frauen gegen Gewalt". Opfer von Vergewaltigungen würden dies aber nur in 5 bis 15 Prozent der Fälle anzeigen. Auch wegen dieser enorm hohen Dunkelziffer blicken viele in Deutschland gerade auf einen Vergewaltigungsprozess im französischen Avignon.
Worum geht es bei dem Prozess in Avignon?
Die Französin Gisèle Pelicot (72) ist zwischen 2011 und 2020 mutmaßlich in mindestens 92 Fällen von ihrem Ex-Mann Dominique Pelicot erst betäubt und anschließend von ihm oder, auf seine "Einladung" hin, von anderen Männern vergewaltigt worden - insgesamt sitzen in Avignon 51 Männer auf der Anklagebank.
Dominique Pelicot ist geständig. Im Prozess kam heraus, dass der 71-Jährige seine Frau in einem Internetforum angeboten habe. Er betäubte sie und verging sich an ihr oder sah dabei zu, wie andere Männer dies taten. Geld habe er von den Mittätern keins verlangt. Ihm ging es laut Anklage um die Befriedigung seiner sexuellen Fantasien.
Ermittler stießen zufällig auf seine Taten, nachdem Pélicot im Supermarkt dabei erwischt wurde, wie er Frauen unter den Rock fotografierte. Bei Durchsuchungen wurden Videos und Fotos von den Vergewaltigungen seiner Frau gefunden. Mittlerweile laufen weitere Ermittlungsverfahren gegen ihn: Die versuchte Vergewaltigung einer 18-Jährigen im Jahr 1999 hat er gestanden (durch DNA überführt), während er die Vergewaltigung und Ermordung einer 23-Jährigen in Paris 1991 bestreitet.
Was macht den Prozess in Avignon so bedeutsam?
Was den Prozess vor allem von den meisten Vergewaltigungsprozessen unterscheidet, ist der offene Umgang des Opfers mit dem, was ihr von den Tätern angetan wurde. Die 72-Jährige litt jahrelang unter unerklärlichen Gedächtnislücken und gynäkologischen Problemen und erfuhr nach eigener Aussage erst durch die Ermittlungen von den Vergewaltigungen. Und die werden nun auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin sehr öffentlich verhandelt - die Videos und Fotos der Taten werden im Prozess gezeigt, obwohl der Richter dies zuerst nicht wollte.
Neben dem Umgang von Gisèle Pelicot mit dem, was ihr widerfahren ist, sind auch die vielen Täter und vor allem ihre teilweise haarsträubenden Ausflüchte vor Gericht außergewöhnlich. So spricht der Ehemann des Opfers von einer "Bestellung", wenn die Vergewaltiger mit Präservativ vorbeikamen. Einem Mann bot er seine Frau im Gegenzug für Gartenarbeit an und sagte, dass das nicht vormittags ging, weil er sie erst mit einer "Tablette" zum Einschlafen bringen müsse.
Einer der Angeklagten antwortete auf Fragen nach dem Einverständnis von Gisèle Pelicot, dass ihr Mann seins gegeben habe: "Es war ein Geschenk von Herrn Pelicot." Ein anderer behauptet, kein Vergewaltiger zu sein, weil er sie gestreichelt habe, und das täten Vergewaltiger ja nicht.
Kann Gisèle Pélicots Offenheit den Umgang mit Opfern von Vergewaltigungen verändern?
Pelicot bekräftigte beim Prozess am Mittwoch, dass sie sich für einen öffentlichen Prozess eingesetzt habe, "damit alle Frauen, die vergewaltigt wurden, sich sagen: Frau Pélicot hat es getan, wir können es auch", erklärte sie. "Sie sollen sich nicht dafür schämen", sagte sie. Sie hoffe, dass der Prozess dazu beitrage, "die Gesellschaft zu ändern".
Dass Gisèle Pelicot den Opfern von Vergewaltigungen ein Gesicht geben wollte, hat ihr viele Sympathien beschert. Wenn sie morgens das Gerichtsgebäude betritt, wird sie mit Applaus empfangen. Gerlinde Gröger, Leiterin des Frauen-Notrufs Münster, freut sich über die Offenheit des Opfers und die positiven Reaktionen darauf. "Diese Parteilichkeit ist für Betroffene besonders wichtig und kann dazu ermutigen, mit dem Geschehen nicht alleine zu bleiben, sich Hilfe zu holen und gegebenenfalls juristische Schritte einzuleiten."
Lena Löwen, Mitarbeiterin der Frauenberatungsstelle Düsseldorf, wagt keine Prognose, ob dieser Prozess das Anzeigeverhalten ändern wird, aber sie lobt, wie klar Gisèle Pelicot die Schuld und Verantwortung der Täter betont. Zu oft werde beides noch bei den Opfern gesucht - ihre klare Haltung könne "Betroffene ermutigen, sich überhaupt jemanden anzuvertrauen".
Wichtig sei auch, dass der Prozess von Avignon deutlich mache, dass Missbrauch meistens durch nahestehende Personen drohe und nicht durch Fremde, so Löwen: "Gewalt innerhalb von Beziehungen ist die viel größere Gefahr. Das wird aber in der Öffentlichkeit oft anders gesehen."
Kann der Prozess die Strafbarkeit von Vergewaltigungen verändern?
Frankreichs Justizminister Didier Migaud überlegt bereits, Sex ohne Zustimmung per Gesetz als Vergewaltigung einzustufen und will das Wort "Zustimmung" in die gesetzliche Definition von Vergewaltigung aufnehmen. Andere Länder haben es vorgemacht: So stimmte Dänemark 2020 für ein Gesetz, das Sex ohne Zustimmung als Vergewaltigung einstuft. Zuvor hatten Schweden, Spanien und Griechenland ihre jeweiligen Gesetze reformiert.
Im deutschen Strafgesetzbuch regelt der Paragraf 177 die Strafbarkeit von sexuellen Übergriffen, Nötigungen und Vergewaltigungen. Darin fehlt das Wort "Zustimmung", doch können sexuelle Handlungen bestraft werden, wenn "der Täter ausnutzt, dass die Person nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern". Käme ein Gericht wie vermutlich im Fall von Avignon zu der Erkenntnis, dass ein Opfer betäubt war, würde das deutsche Strafgesetz wohl greifen.
Unsere Quellen:
- Gespräch mit der Leiterin des Frauen-Notrufs Münster
- Gespräch mit der Frauenberatungsstelle Düsseldorf
- Nachrichtenagenturen AFP und dpa
- Verein "Frauen gegen Gewalt"