In einer Rede vor Abgeordneten seiner AK-Partei hatte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Mittwochvormittag klar positioniert: "Die Hamas ist keine terroristische Organisation. Die Hamas ist eine Befreiungsgruppe, die kämpft, um ihr Land zu schützen", sagte Erdoğan laut der Deutschen Presse-Agentur in Ankara. Im gleichen Atemzug sagte er eine eigentlich geplante Reise nach Israel ab.
Erdoğan: "Heuchelei" der westlichen Staaten
Den westlichen Ländern warf er vor, sie seien unfähig, "Israel zu stoppen". "Dass diejenigen, die die Welt für die Ukraine mobilisiert haben, sich nicht gegen die Massaker in Gaza ausgesprochen haben, ist das deutlichste Zeichen ihrer Heuchelei", sagte der türkische Präsident.
Er forderte eine sofortige Feuerpause von beiden Seiten - aus Israel und aus Gaza. "Wir haben kein Problem mit dem israelischen Staat. Aber wir haben Probleme mit Israels Politik gegenüber den Palästinensern." Erdoğan rief der Agentur zufolge zur Gründung eines "unabhängigen Palästina" auf und erklärte, die Türkei könne in der Zukunft Garant entsprechender Abkommen sein.
"Nicht überraschend, dennoch schockierend"
Inhaltlich hätten ihn die Worte Erdoğans zur islamistischen Palästinenserorganisation Hamas kaum überrascht, sagt Eren Güvercin im Gespräch mit dem WDR am Mittwoch. "In ihrer Klarheit aber waren sie schockierend." Güvercin ist Journalist in Köln und Mitglied der Alhambra-Gesellschaft, einem Zusammenschluss von Musliminnen und Muslimen für Völkerverständigung. Seit Jahren zeige sich Erdoğan als großer Unterstützer der Hamas, immer wieder seien führende Vertreter im türkischen Präsidentenpalast als Gäste empfangen worden. Die klaren Worte von Mittwoch aber hätten "eine neue Qualität". In den USA, der EU und Israel wird die Hamas als Terrororganisation eingestuft.
Seit dem 7. Oktober, dem Beginn des Gaza-Kriegs durch den Großangriff der Hamas auf israelische Dörfer und ein Musikfestival, seien die von der türkischen Regierungspartei AKP bestimmten Medien voller antisemitischer Hetze, sagt Güvercin. Erdoğan selber hatte sich bislang aber zurückgehalten mit einer Positionierung. In seinen jetzt so deutlich geäußerten Worten sieht Güvercin einen "sehr gefährlichen Mobilisierungsfaktor" auch für antijüdische Stimmung in Deutschland.
Anti-Israel-Demos könnten Zulauf bekommen
Für "gefährlichen Sprengstoff" auch in Deutschland hält Burak Çopur, Politikwissenschaftler und Leiter des Zentrums für Radikalisierungsforschung und Prävention in Essen, die Worte des türkischen Präsidenten. "Erdoğans Verteidigung der Hamas ist eine Kampfansage an die westliche Welt." Für die rund 500.000 Erdoğan-Wähler innerhalb der türkischstämmigen Community hierzulande könnte das eine Ermutigung sein, "für die Hamas auf die Straße zu gehen, sie genauso zu verteidigen wie Erdoğan", schätzt Çopur gegenüber dem WDR. Anti-Israel-Demos wie in Berlin oder auch in Duisburg könnten Zulauf bekommen.
Eigentlich, erinnert Hochschulprofessor Çopur, hatte Erdoğan versucht, sich als Vermittler im Nahost-Konflikt zu positionieren. Doch der Westen sei nicht darauf eingegangen, da Erdoğan sich immer wieder als Hamas-Unterstützer zeigte. "Jetzt will er sich als Spachrohr und Führer der islamischen Welt inszenieren", sagt der Radikalisierungsforscher. Er versuche damit, die Welt zu spalten und weiter Öl ins Feuer zu gießen: "Hier wir Muslime, dort die Juden und Christen." Ein "Spiel mit dem Feuer", so Çopur.
Für den kommenden Samstag, sagt Eren Güvercin, hätten Erdoğan und seine AKP zu einer Großkundgebung "für Palästina" in Istanbul gerufen. Erwartet würden mehr als eine Million Menschen. Ob auch der Hamas-Führer Ismail Haniya dort auftrete, sei die spannende Frage. Haniya halte sich derzeit in der Türkei auf.
Über dieses Thema berichten wir am 26. Oktober 2023 im WDR Fernsehen in der Aktuellen Stunde um 18.45 Uhr.