İmamoğlu kurz vor seiner Verhaftung | Kurzvideo 00:59 Min. Verfügbar bis 19.03.2027

Erdoğan-Rivale İmamoğlu festgenommen: Was dahinter steckt

Stand: 19.03.2025, 16:41 Uhr

Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu ist festgenommen worden. Der internationale Aufschrei ist groß. Wer ist İmamoğlu und steckt Präsident Erdoğan hinter der Festnahme? Das sagen Experten.

Von Oliver ScheelSabine Meuter

Er stand kurz vor seiner Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten. Doch jetzt wurde der prominente türkische Oppositionspolitiker Ekrem İmamoğlu in Istanbul festgenommen. Der Istanbuler Bürgermeister, der als wichtigster Rivale von Präsident Recep Tayyip Erdoğan gilt, wurde nach Angaben seines Büros am Mittwochmorgen nach einer Razzia in seinem Haus abgeführt.

Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu | Bildquelle: dpa / Depo Photos

İmamoğlu schien seine Festnahme geahnt zu haben - kurz vorher verbreitete er über Instagram das Video, das oben in diesem Artikel zu sehen ist. Darin spricht er von Polizisten, die vor seiner Haustür stünden.

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft wird gegen İmamoğlu wegen Vorwürfen der Korruption und Erpressung ermittelt. İmamoğlu bestreitet die Vorwürfe. Seine Partei CHP sprach von einem "Putschversuch gegen unseren nächsten Präsidenten".

In diesem Text:

Welche Rolle spielt Präsident Erdoğan?

Steckt Präsident Erdoğan hinter der Verhaftung? Viele unabhängige Experten glauben, dass Erdoğan den beliebten Bürgermeister fürchtet. Er hatte 2019 überraschend die Bürgermeisterwahl in der Metropole am Bosporus gewonnen. Die Wahl wurde annulliert, doch bei der Wiederholung drei Monate später gewann İmamoğlu mit noch deutlicherem Vorsprung. Damit fügte er Erdoğan eine seiner schwersten Niederlagen zu. "Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei", sagte Erdoğan selbst einmal. Daher kommt die Verhaftung für viele Beobachter nicht überraschend:

Erdoğan hat heute den Putsch durchgeführt, den er lange geplant und vorbereitet hat und ließ seinen engsten Rivalen ins Gefängnis stecken. Can Dündar, türkischer Journalist im Exil
Journalist Can Dündar | Bildquelle: WDR/picture alliance/dpa

Der türkische Präsident eifere der Politik Wladimir Putins nach und versuche, mit dessen Taktiken an der Macht zu bleiben, glaubt Dündar. Erdoğan versucht immer wieder, politische Gegner durch Festnahmen aus dem Spiel zu nehmen. Vor allem Bürgermeister der prokurdischen Dem-Partei wurden zuletzt wegen Terrorermittlungen ihres Amtes enthoben und durch regierungsnahe Zwangsverwalter ersetzt.

"Wer Erdoğan gefährlich werden kann, kommt ins Gefängnis"

Die Bundesregierung verurteilte wie viele andere europäische Staaten die Festnahme des Oppositionspolitikers. Dies sei "ein schwerer Rückschlag für die Demokratie" in der Türkei, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts in Berlin. Aus Frankreich hieß es, die Festnahme könne "schwere Folgen für die türkische Demokratie haben".

Deutsche Politiker aus allen Reihen kritisieren die Geschehnisse am Bosporus. Erdoğan reagiere nach einem "Autokraten-Drehbuch", sagte Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne).

Wer Erdoğan gefährlich werden kann, kommt ins Gefängnis. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne)

Die Maßnahmen der türkischen Führung "wirken wie ein Staatsstreich, um ernsthafte Konkurrenten aus dem Weg zu räumen", sagte die CDU-Verteidigungspolitikerin Serap Güler, deren Eltern als sogenannte Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland kamen.

İmamoğlu ist ein Hoffnungsträger der Jugend

Für viele Türken ist İmamoğlu der Hoffnungsträger für einen politischen Wandel. Die nächste Präsidentschaftswahl steht 2028 an, am nächsten Sonntag wollte die CHP İmamoğlu offiziell zu ihrem Kandidaten ernennen.

Trotz eines Demonstrationsverbots haben Studierende mit Protesten auf die Festnahme reagiert. Sie versammelten sich in der Nähe der Istanbul-Universität, wie mehrere Medien berichteten. Das Nachrichtenportal "Birgün" schrieb, die Polizei habe sich den Protestierenden in den Weg gestellt. Andere Medien berichteten, es sei Tränengas eingesetzt worden.

Wie eine Internetbeobachtungsstelle mitteilte, schränkte die Türkei bereits den Zugang zu sozialen Medien wie X, YouTube, Instagram und TikTok ein.

Interview: So schätzt der Leiter der türkischen Redaktion von WDR COSMO die Lage ein

Auch in der türkischen Community in Deutschland schlägt das Thema hohe Wellen. Wir haben mit dem Leiter der türkischen Redaktion von WDR Cosmo, Tuncay Özdamar, gesprochen und ihn um eine Einschätzung gebeten.

WDR: Wie ist die Festnahme von Ekrem İmamoğlu einzuordnen?

Tuncay Özdamar, Leiter der türkischen Redaktion von WDR Cosmo | Bildquelle: WDR

Tuncay Özdamar: Das ist ein gewaltiger historischer Einschnitt - von den Dimensionen her vergleichbar mit dem Putschversuch in der Türkei im Jahr 2016. Von Demokratie kann in der Türkei aktuell keine Rede sein. Ekrem İmamoğlu hat sehr gute Chancen, bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2028 Erdoğan abzulösen. İmamoğlu ist also der größte Rivale von Erdoğan.

Und er ist sehr populär, auch gerade bei den jungen Wählern. Das passt Erdoğan überhaupt nicht ins Konzept und er versucht jetzt auf seine Weise, İmamoğlu aus dem Rennen zu werfen.

WDR: Wird es jetzt in der Türkei einen allgemeinen Aufschrei geben?

Özdamar: In den sozialen Medien hat es bereits einen Aufschrei gegeben. Allerdings wurde sehr schnell der Zugang zu mehreren Online-Plattformen in der Türkei eingeschränkt, darunter X, YouTube und Instagram. Ansonsten halten sich öffentliche Proteste in Grenzen. Das liegt auch daran, dass das Büro des Gouverneurs der Provinz Istanbul eine viertägige Demonstrations-, Versammlungs- und Nachrichtensperre bis Sonntag verhängt hat. Ausgewählte Straßen in der Innenstadt wurden gesperrt, mehrere Bahnstationen sollen geschlossen werden. Begründet wurden die Maßnahmen mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Es ist ziemlich offensichtlich, dass Proteste verhindert werden sollen.

WDR: Wie geht es jetzt weiter - kann İmamoğlu gegebenenfalls doch noch zum Präsidentschaftskandidaten nominiert werden?

Özdamar: Es kommt jetzt auf İmamoğlus Partei CHP an. Sie muss sich am Sonntag entscheiden, ob sie İmamoğlu zum Präsidentschaftskandidaten aufstellt oder nicht. Dass Erdoğan İmamoğlu vor dieser Entscheidung festnehmen ließ, war Kalkül. Er wollte nicht den Anschein erwecken, als wenn ein offizieller Präsidentschaftskandidat festgenommen worden sei. Aber es braucht nicht viel Cleverness, um das Spiel von Erdoğan zu durchschauen. Ob er İmamoğlu nun vor oder nach der offiziellen Präsidentschaftskandidatur festnehmen ließ, macht letztlich keinen Unterschied. Es ging Erdoğan einzig darum, einen für ihn äußerst gefährlichen Rivalen auszubooten.

Das Interview führte Sabine Meuter.

Unsere Quellen:

  • Interview mit Tuncay Özdamar (WDR Cosmo)
  • Instagram-Video von Ekrem İmamoğlu
  • Nachrichtenagenturen dpa, AFP
  • Tagesschau-Artikel