Diese Armut gehört nicht ins reiche Deutschland | MEINUNG

Stand: 12.03.2025, 12:03 Uhr

Deutschland - die drittgrößte Volkswirtschaft und trotzdem eine Menge Armut. Wie kann das sein? Das geht so nicht, meint Liz Shoo.

Von Liz Shoo

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"Diskussion um Bettelverbot in Bielefeld", lese ich vergangene Woche in der WDR aktuell App. Das weckt sofort mein Interesse! Ich lese weiter und erfahre, dass es um einen Antrag der CDU und der FDP im Stadtrat geht. Es soll um die Sicherheit gehen, es gebe viele aggressive Bettler. Außerdem - und das ist das Spannende - wolle man durch Bettelverbotszonen die Innenstadt verschönern. Am Ende scheitert der Antrag, doch die Story beschäftigt mich weiter.

Bettler raus, damit unsere Innenstadt schön bleibt. Ja, als Fußgänger angepöbelt zu werden nervt. Aber geht es uns nur darum, oder wollen wir bei unseren Shopping-Trips lieber ausblenden, dass in unserer Stadt auch Menschen leben, die um ihre nächste Mahlzeit betteln müssen? Natürlich gibt es "Berufsbettler" und berüchtigte Banden, die Menschen auf die Straße schicken. Aber eben auch die, die nach kleinen Spenden fragen, weil sie keinen anderen Ausweg sehen.

Für mich als Afrikanerin war es am Anfang ein großer Schock, Bettler in deutschen Innenstädten zu sehen. Damit hatte ich in einem so reichen Land wie Deutschland nicht gerechnet.

Mittlerweile weiß ich, dass dies nur die sichtbarste Form von Armut in Deutschland ist. Die andere, die viel größere Form der Armut ist eine unscheinbare, nicht aufdringliche, leise, versteckte. Es sind die Millionen von Menschen denen wir im Supermarkt, im Bus oder in der Schule begegnen. Nicht aber in Cafés, im Kino oder beim Shopping in Markenläden. Wenn überhaupt reicht das Geld höchstens für den Second-Hand-Laden oder die Kleiderkammer. Oft arbeiten diese Menschen sogar, oder sie haben gearbeitet - nur die Rente ist zu klein.

Überlebensängste gibt’s nicht nur im Krieg

Seit dieser Woche laufen Koalitionsverhandlungen zwischen der Union und der SPD. Es wird viel über die Sicherheit Europas gesprochen, wie viele Milliarden die neue Regierung dafür ausgeben möchte. Das mag alles wichtig sein. Doch für viele Menschen ist nicht Putin die größte Bedrohung in ihrem Leben, sondern die Sorge, dass sie aus ihrer Wohnung fliegen, weil die Miete steigt oder der Eigentanteil für den Zahnersatz sehr hoch wird.

Diese Menschen haben leider keine große Lobby und schämen sich oft dafür, dass sie arm sind. Ihre Themen haben es schwerer auf die politische Agenda zu kommen - auch, weil Menschen in Armut seltener wählen gehen. Gründe gibt es viele: wenig Vertrauen in die Politik, es wird möglicherweise nicht erkannt, dass alltägliche Probleme, wie hohe Lebensmittelpreise und Wohnungsnot auch politisch veränderbar sind.

Private Haushalte so reich wie nie – wo ist das Geld?

Der Staat hat in den vergangenen Jahren immer mehr Einnahmen. Laut Bundesfinanzministerium waren es im vergangenen Jahr gut 861 Milliarden Euro. Doch nicht nur der Staat ist reich, sondern auch viele Privatmenschen. Noch im Januar meldet die DZ Bank, dass die Deutschen unterm Strich so viel Geld auf der hohen Kante haben, wie noch nie - insgesamt 9,3 Billionen Euro.

Dem gegenüber stehen gut 15 Prozent der Menschen im Land, die von Armut bedroht sind. Nimmt man die, die von sozialer Ausgrenzung bedroht sind dazu, sind es ein Fünftel der Bevölkerung. Wie passt das zusammen?

Eine Person gilt in der EU übrigens als von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, wenn

  • ihr Einkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze liegt.
  • ihr Haushalt von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen ist.
  • im Haushalt nur wenige arbeiten.

Viele Ursachen, viele Lösungen

In Deutschland wird Armut leider oft vererbt. Genauso wie Reichtum. Leute mit hohem Abschluss verdienen oft mehr. Wer mehr verdient, kann mehr beiseitelegen, anlegen oder investieren - zum Beispiel in Immobilien, die im Wert tendenziell auch steigen. Heißt: Reiche werden schneller noch reicher und die Lücke zu den Ärmsten im Land noch größer.

Das fängt beim Frühstück an: Es gibt viele Familien, in denen die Kinder ihre erste Mahlzeit des Tages erst in der Schule bekommen. Ein Frühstück können sich die Eltern nicht leisten. Muss der Staat dem Kind ein Frühstück bereitstellen? Nein! Ich finde aber, dass er Bedingungen schaffen muss, dass die Eltern genug in der Tasche haben, um dem Kind ein Frühstücksbrot zu schmieren. Denn dann kann sich dieses Kind auch besser im Unterricht konzentrieren, und mit einer besseren Bildung hat es später die Chance, aus der Armut herauszukommen.

Damit Menschen die Möglichkeit bekommen, mehr für sich und ihre Familien zu erwirtschaften, kann ein Staat viel tun. Ich nenne nur ein paar Ansätze und wünsche mir, dass das auch umgesetzt werden kann, denn es waren alles Wahlversprechen von SPD und Union. Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft ist die wichtigste Waffe gegen Armut Arbeitsplätze. Deshalb muss das Wirtschaftswachstum, das uns die Union versprochen hat, nicht nur irgendwelche Arbeitsplätze schaffen, sondern stabile, gut bezahlte Jobs, damit Menschen nicht im Niedriglohnsektor verharren.

Bürgergeld: Totalverweigerer sind nicht das Hauptproblem der Armut

Beim Stichwort Arbeit oder keine Arbeit landet man schnell bei der aktuellen Bürgergeld-Debatte. Union und SPD wollen das Bürgergeld in Grundsicherung umbenennen und das System reformieren. Dass sie Menschen schnell wieder in Arbeit bringen wollen, finde ich gut. Aber es muss sich auch mehr lohnen zu arbeiten, statt zuhause zu bleiben. Zumindest soll der Mindestlohn 2026 auf 15 Euro steigen. Das ist eine gute Nachricht!

Es ist richtig, dass demnächst Leistungen stärker gekürzt oder ganz gestrichen werden, wenn Menschen, die arbeiten können, Arbeitsangebote ablehnen. Aber das wird kaum Probleme lösen. Denn Fakt ist, dass unter den 5,4 Millionen Bürgergeldempfängern relativ wenige „Totalverweigerer“ sind. Laut der Bundesagentur für Arbeit wurde letztes Jahr 16.000 "Totalverweigerern" der Regelsatz gekürzt. Viele Menschen stocken mit dem Bürgergeld aber lediglich auf – sie haben eine Arbeit, die nicht zum Leben reicht. Deswegen wieder der Apell für besser bezahlte Jobs.

Bürgergeld: Diskussion um Kürzungen und Sanktionen WDR 5 Westblick - aktuell 30.01.2025 04:43 Min. Verfügbar bis 30.01.2026 WDR 5

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Andere Menschen können kaum oder gar nicht arbeiten, weil sie Angehörige pflegen. Vielleicht würde diesen Menschen bezahlbare Pfleger helfen, damit sie einer Tätigkeit nachgehen können. Dann gibt es noch diejenigen, die nicht die Qualifizierungen haben, die der Arbeitsmarkt benötigt. Hier muss es mehr Qualifizierungsangebote geben.

Wenn die SPD Armut bekämpfen will, muss sie sich in der neuen Regierung ernsthaft für bezahlbares Wohnen und verlässliche Bildung in Kitas und Schulen einsetzen. Wer weniger Miete zahlt hat mehr im Portemonnaie. Wenn eine Frau einen Platz in einer Ganztagsbetreuung in der Schule oder Kita hat, kann sie, wenn sie möchte, länger arbeiten oder überhaupt arbeiten. Das schützt sie vor der Teilzeitfalle und verhindert mögliche Altersarmut, die häufiger Frauen betrifft.

All das sind Stellschrauben, die nicht nur jetzt sondern auch später Menschen aus und vor der Armut retten können. Natürlich kostet das alles Geld. Deshalb finde ich es richtig, dass im "Sondervermögen Infrastruktur" auch Geld in die Kommunen fließen wird. Es ist eine notwendige Investition in die Zukunft.

Denn was passiert, wenn ein Land auf der einen Seite eine Wirtschaftsmacht ist und auf der anderen Seite mit massiver Armut zu kämpfen hat, sieht man in den USA. In der größten Volkswirtschaft der Welt gibt es ein massives Obdachlosigkeitsproblem in den Großstädten. Millionen Menschen haben keine Krankenversicherung und viele halten sich mit Zweit- und Drittjobs über Wasser. So weit darf es in Deutschland nicht kommen.

Ich finde, der Staat sollte ein großes Interesse daran haben, die Armut zu reduzieren. Denn sie ist nicht nur gegen die Menschenwürde, sondern sie gefährdet auch unsere Demokratie. Wenn es "denen da unten" ein bisschen besser geht, gibt es vielleicht auch weniger Neiddebatten, weniger nach unten treten, weniger Spaltung, weil Menschen nicht das Gefühl haben, dass eine andere Gruppe ihnen was wegnimmt. Die Verhandler in Berlin haben jetzt die Chance, uns in eine reichere Zukunft zu führen.

Wo begenet euch Armut im Alltag und was sagt ihr zur Bürgergeldreform? Lasst uns darüber diskutieren! In den Kommentaren auf WDR.de oder auf Social Media.

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