Bonner Kinderpsychiater Winterhoff wegen Körperverletzung vor Gericht 02:46 Min. Verfügbar bis 12.02.2027

Bonner Kinderpsychiater Winterhoff wegen Körperverletzung vor Gericht

Stand: 12.02.2025, 06:00 Uhr

Der Prozess gegen den Bonner Kinderpsychiater Michael Winterhoff beginnt heute vor dem Bonner Landgericht.

Von Nicole Rosenbach

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Arzt gefährliche Körperverletzung in 36 Fällen vor. Der WDR und die Süddeutsche Zeitung hatten 2021 aufgedeckt, dass Winterhoff Kindern und Jugendlichen über Jahre sedierende Medikamente verschrieben hatte.

Die Vormünderin Karin Staab | Bildquelle: WDR

Karin Staab erinnert sich genau an den Moment, als ihr Zweifel an der Behandlungsmethode des renommierten Kinderpsychiaters Michael Winterhoff kamen: "Ein Schulleiter hat mich angerufen", sagt die gerichtlich bestellte Vormünderin aus Rheinbach. "Mein Mündel, ein junges Mädchen, war im Unterricht sehr oft müde. Sie hat den Kopf auf den Tisch gelegt. Ich sollte das Medikament, das sie nahm, im Auge behalten." Für Karin Staab, die Heimkinder betreut, war das der erste deutliche Hinweis, dass etwas an der Behandlungsmethode des bekannten Kinderpsychiaters nicht stimmen könnte.

Doch ihr Versuch, die Medikation kritisch zu hinterfragen, stieß auf massiven Widerstand - nicht nur von Michael Winterhoff selbst, sondern auch von den Institutionen, die mit ihm zusammenarbeiteten. Als Karin Staab sich an einen unabhängigen Experten wandte und eine Zweitmeinung einholte, eskalierte der Konflikt. Winterhoff zeigte sie wegen Kindeswohlgefährdung an.

Widerstand auch von Einrichtung und Jugendamt

Auch das Jugendamt und die Einrichtung "Kleiner Muck e.V." in Bonn, in der das Mädchen lebte, stellten sich über lange Zeit gegen Staab. Die Einrichtung verteidigte sowohl die Medikation als auch den Arzt selbst, der in der Regel alle Kinder des Vereins "Kleiner Muck e.V." behandelte. Damit warb der Verein auch auf Flyern. Besonders irritierend war für Karin Staab, dass "Kleiner Muck e.V." ihr inmitten des Konflikts vorschlug, das vorbereitende Hilfeplangespräch mit dem Jugendamt direkt in Winterhoffs Praxis abzuhalten. "Das war wohl ein deutliches Signal", sagt Karin Staab.

Michael Winterhoff war zu diesem Zeitpunkt längst ein gefeierter Star. Seine Bücher über angeblich tyrannische Kinder hatten Bestsellerstatus, und seine Auftritte in Talkshows machten ihn zu einem einflussreichen Meinungsführer in Erziehungsfragen. Seine Thesen prägten die Pädagogik zahlreicher Kitas und Schulen. Doch für Karin Staab zeigte sich eine ganz andere Realität: Sie sah ein junges Mädchen, das Psychopharmaka verschrieben bekam, ohne dass Alternativen geprüft wurden - im Zusammenspiel mit Institutionen, die diese Praxis stützten.

"Ich musste einiges wegstecken", sagt Karin Staab rückblickend. Ihre Versuche, das Wohl ihres Mündels zu schützen, wurden immer wieder blockiert. Doch trotz des Widerstands hielt sie an ihrer Verantwortung fest. "Es war schwer, aber ich hatte eine Verpflichtung gegenüber diesem Kind."

Ein mutmaßliches System aus Medikamenten und Abhängigkeiten

Die Hinweise von Karin Staab führten zu Recherchen, die 2021 mit der ARD Story "Warum Kinder keine Tyrannen sind" erstmals die dunkle Seite von Michael Winterhoff beleuchteten. Die Erkenntnisse waren erschütternd: Winterhoff hat über Jahrzehnte hinweg zahlreiche Kinder mit dem sedierenden Medikament Pipamperon behandelt. Das ist ein Neuroleptikum, das laut Fachinformationen nur für kurzfristige Anwendungen zugelassen ist, etwa bei Schlafstörungen oder psychomotorischen Erregungszuständen.

Die Ärztekammer Nordrhein betont in einem Gutachten, dass eine mehrwöchige Behandlung mit Pipamperon bei Kindern und Jugendlichen in der Regel nicht indiziert sei. Es dürfe nur in Ausnahmefällen erwogen werden, bei schwersten Verhaltensstörungen, die auf intensive therapeutische Maßnahmen nicht ansprechen würden. Dennoch setzte der Bonner Kinderpsychiater das Medikament über Jahre hinweg bei zahlreichen Kindern ein, wie aus uns vorliegenden Zeugenaussagen und Medikamentenplänen von Jugendhilfeeinrichtungen hervorgeht.

Michael Winterhoff arbeitete eng mit Jugendhilfeeinrichtungen zusammen und diagnostizierte häufig bei Kindern "frühkindlichen Narzissmus" - eine Diagnose, die weder wissenschaftlich anerkannt noch medizinisch haltbar ist. Auf Basis dieser Diagnose empfahl er immer wieder auch die Unterbringung in Kinderheimen, mit denen er kooperierte. Winterhoffs Arbeitsfeld war groß: Nach eigenen Angaben war er in bis zu 30 Pflegefamilien und Einrichtungen tätig, in drei Bundesländern.

Ehemalige Winterhoff-Patientin: "Ich habe nichts mehr gefühlt."

Eine der bewegendsten Geschichten der Dokumentation ist die von Lara, heute 17 Jahre alt. Mit sieben Jahren kam sie ins Heim, weil ihre alleinerziehende Mutter wegen einer Depression überfordert war. "Ich wollte Hilfe, um wieder stark für meine Kinder zu sein", sagt Laras Mutter Daniela. Doch statt der erhofften Unterstützung begann Michael Winterhoff eine jahrelange Behandlung ihrer Tochter mit Pipamperon. "Die Heimleitung erklärte mir, es sei nur ein Saft, der Lara 'erden' soll - eine Übergangslösung. Ich wurde von Michael Winterhoff persönlich nie über dieses Medikament oder diese Nebenwirkungen aufgeklärt." Am Ende wurden daraus fast sechs Jahre Dauerbehandlung.

Lara selbst beschreibt die verheerenden Folgen: "Ich war wie versteinert. Ich habe nichts mehr gefühlt. Es war, als hätten die Medikamente meine Gefühle komplett ausgelöscht." Ihre Mitschüler und Lehrer nahmen sie nur als abwesend wahr. "Die Menschen dachten, ich gucke durch sie hindurch", erzählt sie

Lara, 17, war Winterhoff-Patientin | Bildquelle: WDR

Die Medikamente seien unter Aufsicht verabreicht worden, ein Verweigern sei unmöglich gewesen, berichtet Lara. "Einige Kinder versuchten, die Pillen zu verstecken oder wegzuwerfen. Aber die Erzieher merkten es und zwangen uns, die Medikamente vor ihnen zu nehmen."

Laras ehemalige Einrichtung, das "Heidehaus", mit mehreren Wohngruppen in Rheinland-Pfalz, möchte dem WDR gegenüber nicht zu der Medikamentenvergabe Stellung nehmen. Michael Winterhoff erklärt, er könne sich aus rechtlichen Gründen nicht zu Einzelfällen äußern und lehne eine "Inszenierung seiner ehemaligen Patienten" ab.

Kinder, die emotional verstummten

Sandra Rühl, eine ehemalige Grundschullehrerin und Sonderpädagogin, erinnert sich an Kinder, die durch die Medikation von Michael Winterhoff kaum ansprechbar gewesen seien: "Sie konnten im Unterricht ihre Augen nicht offenhalten, zeigten Zuckungen oder verdrehten die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war." Dass dies typische Nebenwirkungen der Neuroleptika sind, konnte sie damals nur ahnen. "Aber die Einrichtung spielte es immer herunter." Für viele Kinder wurden diese Medikamente zur Falle: Sie verstummten nicht nur emotional, sondern verloren auch schulisch den Anschluss.

Pipamperon wurde in knapp 900 von 3.093 untersuchten Fällen von Michael Winterhoff verordnet, das sind etwa 29 Prozent. Der Kinderpsychiater argumentierte, die Kinder seien so "besser erreichbar". Er habe das Medikament nur bei eindeutiger Indikation verordnet, wenn Patienten sozial nicht mehr ansprechbar oder schulunfähig waren.  

Lara kämpft bis heute mit Bildungslücken, die kaum noch aufzuholen sind. "Ihre Träume von einer beruflichen Zukunft sind fast unerreichbar geworden", sagt ihre Mutter Daniela.

Langzeitfolgen für die Betroffenen

Die Folgen für die ehemaligen Patienten sind gravierend. Benjamin Klömpken, heute 27 Jahre alt, war eines der vielen Kinder, die im Heim aufwuchsen, ohne Kontakt zu den leiblichen Eltern zu haben. Michael Winterhoff behandelte ihn zehn Jahre lang mit Psychopharmaka. Er leidet bis heute an chronischer Müdigkeit und Zuckungen in den Füßen und Händen. Für Benjamin, Lara und viele andere bleiben die Jahre in den "Winterhoff-Heimen" eine belastende Erinnerung.

"Das System hat mir meinen Willen genommen. Es hat uns Kinder klein gemacht, statt uns zu helfen." Benjamin Klömpken, ehemaliger Winterhoff-Patient
Benjamin Klömpken wurde mit Psychopharmaka behandelt | Bildquelle: WDR

Benjamin Klömpken ist einer der Betroffenen, die voraussichtlich im Prozess vor dem Landgericht Bonn gegen Michael Winterhoff aussagen werden. Insgesamt lagen der Staatsanwaltschaft hunderte Anzeigen und umfangreiche Ermittlungsakten vor. Gegenstand der Anklage sind 36 Fälle, die den Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung betreffen. Der Prozess, der öffentlich geführt wird, ist für 40 Verhandlungstage bis Ende Juli angesetzt.

Kinderpsychiater hält Vorwürfe für unbegründet

Michael Winterhoff stand für ein Interview nicht zur Verfügung, weist die Vorwürfe gegen ihn aber schriftlich entschieden zurück. Medikamente seien stets nach individueller Diagnostik und ordnungsgemäßer Aufklärung der Sorgeberechtigten verschrieben worden, niemals systematisch. Sedierungen oder andere Nebenwirkungen seien weder beabsichtigt noch bewusst in Kauf genommen, sondern vermieden worden. Eine Weiterbehandlung sei regelmäßig überprüft worden.

Michael Winterhoff erklärt, es gebe keine Beweise, dass seine medikamentöse Behandlung Schäden verursacht habe. In keinem Fall habe die Medikation zu einer dauerhaften körperlichen Beeinträchtigung geführt, so dass keine Körperverletzung vorliege. Die Verordnung sei stets Teil einer umfassenden Behandlung gewesen, eingebettet in regelmäßige Untersuchungen und Therapiegespräche. Er habe Pipamperon nur bei eindeutiger Indikation verordnet, wenn Patienten sozial nicht mehr ansprechbar oder schulunfähig gewesen seien. Michael Winterhoff hält die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft für unbegründet und will sich gegen diese verteidigen. Bis zu einem rechtskräftigen Urteil gilt die Unschuldsvermutung.

Bonner Kinderpsychiater Winterhoff wegen Körperverletzung vor Gericht WDR Studios NRW 12.02.2025 04:11 Min. Verfügbar bis 12.02.2027 WDR Online

Die dreiteilige Dokuserie "Der Kinderpsychiater – Die Macht des Dr. Winterhoff" in der ARD-Mediathek zeichnet das System Winterhoff nach und zeigt, wie ein Arzt das Leben hunderter Kinder beeinflusste - und wie Menschen wie Karin Staab mutig genug waren, das System zu hinterfragen.

Unsere Quellen:

  • Interviews mit Betroffenen
  • Stellungnahme Michael Winterhoff
  • Interview mit Karin Staab
  • Recherchen zum Fall Winterhoff von WDR und SZ 2021, unter anderem veröffentlicht als ARD Story bei MONITOR.

Über dieses Thema berichtet der WDR am 12. Februar auch im Radio auf WDR 2, in der Aktuellen Stunde und in der Lokalzeit aus Bonn.
Die Dokuserie ist ab dem 12. Februar 2025, 18:00 Uhr in der ARD-Mediathek verfügbar.