Die U-Bahn fährt weg. Mirkan Mohr und Katja Koschig, seine persönliche Assistentin, gucken hinterher. Drei Stufen waren Schuld daran: Sie haben den jungen Rollstuhlfahrer daran gehindert, in die hohe Bahn zu kommen.
"Da stand ja jetzt fett dran ,behindertengerecht'" wundert sich Katja Kosching noch. Mirkan Mohr kann aufklären: – „Aber nur wenn der Bahnsteig auf einer Höhe ist mit der Bahn ist, dann kommst du da ebenerdig rein.“ Jetzt heißt es warten auf die nächste Bahn. Eigentlich dauert die Fahrt von der Haltestelle Uni Süd in Düsseldorf bis zu Hause nach Duisburg-Großenbaum, wo Mirko Mohr wohnt, nur 45 Minuten. Für ihn aber deutlich länger.
"Ich will kein Hindernis sein"
Bei der nächsten Bahn klappt es besser, denn sie ist tiefer gelegt. Katja hilft Mirkan mit einem kleinen Schubser über den Spalt zwischen Bahnsteig und Bahn.
Drinnen sitzt Mirkan trotz Behindertenplatzes im Weg. Zwischen seinen Zehenspitzen und den nächsten Sitzen sind nur wenige Zentimeter. An den nächsten Haltestellen steigen Menschen immer wieder über seine Füße. „Ich fühle mich da mehr oder weniger als Hindernis, weil ich blockiere hier alles und das nur aufgrund dessen, dass hier kein Platz mehr ist", sagt Mirkan.
Der Umstieg an der Heinrich-Heine-Allee klappt sehr gut, denn die Haltestelle ist barrierefrei. Doch wie genau wird Barrierefreiheit definiert? Sie wird in verschiedenen Normen und Gesetzen geregelt. Stufen und Spalten sollen vermieden werden, taktile Leitsysteme zum Beispiel für sehbehinderte Menschen und ein Witterungsschutz müssen vorhanden sein, und die Fahrgastinformationen müssen für alle verständlich sein.
Nur etwa jede dritte Haltestelle ist barrierefrei
Westpol wollte wissen, wie viele barrierefreie Haltstellen es in NRW gibt, aber es gibt kein zentrales Register dafür. Deswegen hat der WDR 396 Städte und Gemeinden in NRW angefragt, die für den Umbau der meisten Haltestellen zuständig sind. Wie viele Bus- und Stadtbahn-Haltestellen sind für alle Menschen zugänglich? 214 Städte haben geantwortet.
Es zeigt sich: Nur knapp jede 3. Haltestelle ist offenbar barrierefrei. Die Ausbauquote ist dabei extrem unterschiedlich: In Langenberg, Billerbeck und Bedburg-Hau sind zum Beispiel alle Haltestellen barrierefrei. In Moers, Lemgo und Bonn sind es rund die Hälfte und in Kaarst, Wachtendonk, Recke und Wadersloh gibt es noch gar keine barrierefreien Haltestellen.
Koffer, Rollator, Kinderwagen
Nächster Halt für Mirkan und Katja: Düsseldorf Hauptbahnhof. Von hier aus soll die S-Bahn die beiden nach Duisburg-Großenbaum bringen. Mirkan teilt sich den Platz ganz vorne in der Bahn mit Koffern, einem Fahrrad und einem Kinderwagen.
Auch für solche Reisende wird ein spontaner Ausflug eher zum Abenteuertrip. Linda Buddelmeyer, die mit ihrem kleinen Kind unterwegs ist, ist genervt darüber: „Man kann eine Reise nicht so wirklich planen. Also im Moment kann ich noch das Kind und den Kinderwagen gleichzeitig tragen. Das geht noch. Von daher kann ich mir selbst manchmal ganz gut helfen an manchen Stellen.“ Eine Lösung sei das aber natürlich nicht.
Wenn 300 Meter zur Weltreise werden
Die Haltestelle Duisburg-Großenbaum liegt nur 300 Meter von Mirkans Zuhause entfernt. Der Aufzug streikt. Mehrmals drückt Mirkan auf den Rufknopf, aber es passiert nichts.
Ratlosigkeit. Die lange Treppe, um das Gleis zu verlassen, ist keine Option. Aber vielleicht kann die Service-Stelle der Deutschen Bahn ja helfen? Mirkan versucht es und wählt die Nummer, die am Aufzug hängt. „Hallo, ich ruf an, weil der Aufzug in Duisburg-Großenbaum kaputt ist. Ich stehe jetzt oben am Gleis. Haben Sie eine Idee, wie ich runterkomme?“
Hat er nicht. Der Mitarbeiter erklärt, dass Mirkan einen Umweg fahren muss. Also wieder in die Bahn und irgendwie anders heim. Ein Bahnsprecher schreibt uns: „Grundsätzlich werden Aufzüge umgehend instand gesetzt, nur im Einzelfall kommt es wie in Duisburg-Großenbaum zu längeren Ausfällen. Gründe sind hierfür beispielsweise längere Wartezeiten auf Ersatzteile von den Herstellern.“
Nächste Woche soll der Aufzug repariert werden, verspricht die Bahn. Außerdem betont sie, dass schon jetzt mehr als 80 % der Bahnhöfe zumindest stufenfrei erreichbar seien. Doch noch sind lange nicht alle Bahnhöfe komplett barrierefrei.
Viele Gründe gegen einen Ausbau
Woran liegt das, dass der ÖPNV insgesamt so weit zurückhängt? Die Städte sagen gegenüber Westpol: Meistens lohnt sich ein Ausbau nicht, weil es zu wenige Passagiere an den einzelnen Haltepunkten gibt. An vielen Haltestellen fehlt eine Infrastruktur, weil zum Beispiel gar kein Bordstein da ist. Oder es fehlen Fachkräfte, um Umbaupläne auch umzusetzen.
Das NRW-Verkehrsministerium unterstützt den Ausbau mit Fördergeldern, will sich aber nicht weiter einmischen. Es schreibt Westpol, dass der barrierefreie Ausbau Aufgabe der Städte sei: "Aufgabenträger sind die zuständigen Kreise, kreisfreien Städte und einige kreisangehörige Städte. Hier gilt das verfassungsmäßig garantierte Recht der kommunalen Selbstverwaltung."
Alleine Reisen heißt selbstbestimmt sein
Ankunft am Duisburg Hauptbahnhof. Der Höhenunterschied zwischen Bahn und Bahnhof macht wieder Probleme. „Ne, ne, ne, ich mache lieber die Rampe“, sagt Mirkan. Andere Gäste wollten ihn herausheben.
Das ist zu gefährlich. Nach wenigen Minuten kommt schon die Hilfe in Form von zwei Bahnmitarbeitern und einer mobilen Rampe.
Mittlerweile ist Mirkan seit über 2,5 Stunden unterwegs. Trotzdem möchte er sich nicht von seinen Eltern mit dem Auto abholen lassen. „Ich möchte selber entscheiden, wo ich wann hinfahre. Ich möchte nicht immer um Hilfe fragen. Papa kannst du mich mal irgendwo hinfahren? Und ich möchte auch nicht einfach fremde Leute ansprechen, denn ich möchte ein selbstbestimmtes Leben führen und da sollte die Bahn ja eigentlich eine Option sein, oder generell der ÖPNV. Aber wie man mehr oder weniger gesehen hat: Das funktioniert nicht.“
Stundenlang unterwegs
Es geht weiter mit noch einer Straßenbahn. Und dann noch mit einem Bus. "Ich muss jetzt beispielsweise an einer Haltestelle fahren, die 1,5 Kilometer weg ist von mir Zuhause und von da aus halt laufen. Langsam möchte ich auch mal nach Hause", sagt Mirkan.
Statt 45 Minuten haben Mirkan und Katja am Ende über 3,5 Stunden gebraucht und sind fünf Mal umgestiegen. Nicht geeignete Bahnen, defekte Aufzüge, große Abstände zwischen Fahrzeug und Haltestelle haben für Probleme gesorgt. Beim Thema Barrierefreiheit haben die Kommunen, das Land und die Deutsche Bahn noch einiges zu tun.