Zwar ist die Zahl der Opfer im Kindesalter 2022 im Vergleich zum Vorjahr ganz leicht gesunken. Deutlich gestiegen ist allerdings die Verbreitung von kinder- und jugendpornografischen Inhalten im Internet. Im Bericht "Sexualdelikte zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen" dokumentiert das Bundeskriminalamt (BKA) erstmals akribisch die Zahl der gemeldeten Taten, die Struktur der Opfer und die der Täter: 17.168 Kinder unter 14 Jahren wurden im Jahr 2022 zu Opfern sexuellen Missbrauchs. Im Vergleich zum Vorjahr ist diese Zahl leicht gesunken (2021: 17.498). In fast jedem siebten Fall waren die Opfer noch keine sechs Jahre alt.
Auffällig in dem Bericht: Bei den Opfern unter 14 Jahren ereignete sich der sexuelle Missbrauch in einem Drittel der Fälle mit Gleichaltrigen. Ebenfalls knapp ein Drittel der Täter war über 40 Jahre alt.
In NRW registrierte das BKA mit Abstand die meisten Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern - was aber auch an der hohen Bevölkerungsdichte und der Vielzahl größerer Städte liegt.
"Lügde hat viel verändert"
Die gute Nachricht: Seit der Aufdeckung des großen Missbrauchskandals in Lügde ist Zahl der Verfahren im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in NRW stark angestiegen. Gut sei die Nachricht deshalb, weil sie zeige, dass sich die Ermittlungsarbeit der Polizei seitdem deutlich verbessert habe, sagen Experten.
Daten werden beim LKA ausgewertet
So seien mehr Beamte in dem Bereich eingesetzt, bei einem Verdacht auf schweren sexuellen Missbrauch ermitteln jetzt nicht mehr kleinere Polizeibehörden, sondern direkt die größeren, die ihre Spezialistinnen und Spezialisten dafür haben. Auch die Auswertung von Bild- und Videomaterial läuft jetzt zentral im Landeskriminalamt in Düsseldorf.
Neue Regeln für Jugendämter
Für Jugendämter gelten teilweise neue Regeln: Sie müssen sich jetzt mit Polizei, Schulen, Kitas und Kinderärzten regelmäßig darüber austauschen, wie man auf allen Ebenen den Kinderschutz verbessern kann. Seit dem Sommer müssen die beiden Landesjugendämter im Rheinland und in Westfalen zudem den mehr als 180 lokalen Jugendämtern ihre Hilfe anbieten, um gewisse Standards im Umgang mit Kindeswohlgefährdungen umzusetzen.
"Da ist nach Lügde richtig was zugesetzt worden", lobt Renate Blum-Maurice aus dem Vorstand des Kinderschutzbunds NRW gegenüber dem WDR. Allerdings fürchte der Kinderschutzbund NRW, dass einzelne Jugendämter überfordert sein könnten mit den neuen Aufgaben. Sie müssten besser ausgestattet werden, sagte Blum-Maurice.
Größere Sensibilität bei Eltern
Auch Philipp Büscher vom Kölner Verein "Zartbitter", einer Kontaktstelle gegen Kindesmissbrauch, sieht eine hoffnungsvolle Entwicklung zumindest bei der Aufdeckung: "Eltern melden sich mittlerweile früher, wenn sie eine Wahrnehmung haben", sagte er im WDR Radio. Auch mehr Eltern von Kitakindern riefen an, um ihre Sorgen zu formulieren - zum Beispiel, wenn es um Übergriffe durch gleichaltrige Kinder gehe. Zu mehr Sensibilität habe auch die breite Berichterstattung der Medien zu den großen Fällen - wie beispielsweise Lügde - beigetragen.
"Kinder und Jugendliche sind heute auch besser in der Lage, die Dinge zu benennen, die sie stören", sagt Büscher - zumindest bei der so häufigen Belästigungen durch Gleichaltrige. "Wenn sie es dann schafften, sich an Erwachsene zu wenden, kann ihnen gut geholfen werden."
Kindern ihr "Recht am Bild" vermitteln
Beim großen Thema der digitalen sexualisierten Gewalt könnten auch Eltern von Anfang an stärkend wirken, indem sie Kindern ihr "Recht am eigenen Bild" vermitteln, sagt Büscher. "Wenn Kinder ein Gefühl dafür bekommen, dass sie nicht in jeder Lebenslage fotografiert werden und dann keinen Einfluss darauf haben, was mit den Bildern passiert, stärkt sie das ungemein." Fehle aber das Bewusstsein für das Recht am eigenen Bild, dann schwäche das die Kinder "in ihrer Widerstandskraft, wenn sie entscheiden könnten, ein Bild nicht weiter zu schicken oder auf eine entsprechende Anfrage im Internet nicht zu reagieren".
Es fehle aber noch sehr viel Fortbildung in den Kitas und anderen Einrichtungen, sagt Büscher: Pädagogische Fachkräfte seien oft unsicher dabei, das Thema überhaupt zu benennen oder anzusprechen. Viele hätten in ihrer Ausbildung gar nichts dazu gelernt.
Das sind die wichtigsten Zahlen und Infos aus dem Bundeslagebericht des BKA:
Kinder
- Von den 17.168 missbrauchten Kindern waren 85 Prozent (14.720) deutscher Nationalität. Unter den nichtdeutschen Opfern waren vor allem Kinder mit syrischer, rumänischer und polnischer Abstammung (109) Staatsangehörigkeit. Bei 1.045 Kindern war die Staatsangehörigkeit nicht geklärt. Fast 74 Prozent der Opfer waren Mädchen.
- Auch bei den Tatverdächtigen zeigt sich, dass sexuelle Gewalt in Deutschland ein deutsches Phänomen ist: Von den 11.556 Tatverdächtigen waren 9.455 (82 Prozent) deutsch. Unter den nichtdeutschen Tatverdächtigen überwogen die syrische, afghanische und türkische Staatsbürgerschaft.
- In einem Drittel der Fälle waren die Tatverdächtigen selber Kinder oder Jugendliche. Laut Kriminalpolizei sammeln Minderjährige häufig bereits in frühem Alter sexuelle Erfahrungen mit Gleichaltrigen und seien sich dabei oft nicht der Strafbarkeit ihrer Handlungen bewusst.
- Als Tatmotive für sexuellen Missbrauch von Kindern nennt der Bericht unter anderem Intimitäts- und Bindungsdefizite, unbefriedigende Partnerschaft, Stress, emotionale Unreife. Aber auch die Ausübung von Macht gegenüber dem Opfer spiele in vielen Fällen eine Rolle.
Jugendliche
- Von den 1.135 missbrauchten Jugendlichen waren 90 Prozent (1.025) deutscher Nationalität. Unter den nichtdeutschen Opfern waren vor allem Jugendliche mit ungarischer Abstammung (21). Fast 76 Prozent der Opfer waren Mädchen.
- Von den 925 Tatverdächtigen waren 721 (78 Prozent) deutsch. Unter den nichtdeutschen Tatverdächtigen überwog die syrische Staatsbürgerschaft.
- In den meisten Fällen gab es zwischen Opfern und Tatverdächtigen eine Vorbeziehung. In den anderen Fällen, so der Bericht, kam es vor allem durch Cyber-Grooming zur Straftat: Kinder wurden im Internet gezielt angesprochen, um einen sexuellen Kontakt anzubahnen.
Kinder- und Jugendpornografie im Internet
- Deutlich zugenommen hat 2022 die Verbreitung, der Kauf und Besitz von Kinder– und Jugendpornografie. Die Polizei registrierte 42.075 Fälle - 7,5 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum (39.171). Um mehr als ein Drittel stieg die Zahl der Darstellungen mit jugendpornografischen Inhalten, die der Polizei gemeldet wurden.
- Einen Grund für den Anstieg bei diesen Zahlen sieht das BKA unter anderem darin, dass die Hinweise, die zu Tätern führen, deutlich zugenommen hätten: Gingen 2021 beim BKA noch etwa 78.600 Hinweise auf kinderpornografische Inhalte ein, waren es 2022 fast doppelt so viele - rund 136.450.
- Diese Hinweise meldet das in den USA beheimatete NCMEC (National Center for Missing and Exploited Children). Das NCMEC kooperiert mit amerikanischen Internetanbietern und Serviceprovidern, die mit modernster Filtertechnologie permanent nach Missbrauchsabbildungen im Internet suchen. Verdachtsanzeigen leitet das NCMEC an die jeweils zuständige Polizei des Landes weiter, in dem die Straftat mutmaßlich stattgefunden hat.
- Auch die Ermittlungen zu den umfangreichen Fällen in NRW hätten dazu beigetragen, so das BKA. Seit dem Jahr 2021 gilt die Verbreitung, der Erwerb und der Besitz kinderpornografischer Inhalte zudem als Verbrechen - Mindeststrafe ein Jahr Gefängnis. Als Straftat zählen auch virtuelle Darstellungen wie "Hentai" - animierte Pornografie in Comicform. Hierfür droht allerdings eine geringere Strafe.