Förderschule: Abseits oder Chance?
Stand: 31.01.2025, 11:39 Uhr
Immer mehr Schulkinder in NRW haben sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf. Nur etwas mehr als die Hälfte von ihnen besucht eine Förderschule. In Politik und Öffentlichkeit hat die Schulform einen schlechten Ruf. Zu Unrecht?
Von Martina Koch
"Einen wunderschönen guten Morgen. Ich freue mich, dass ihr so zahlreich da seid. Wie geht es euch?", begrüßt Sonderpädagogin Pia Stöcker ihre siebte Klasse der Förderschule Auguststraße in Köln. Vor ihr sitzen acht Jungen und ein Mädchen, für die das Lernen eine große Herausforderung ist, und die sich oft auffällig verhalten. Viele kommen aus schwierigen Elternhäusern, können sich nur schlecht konzentrieren, manche sind traumatisiert. Unterstützt wird Pia Stöcker von einer Lehramtsanwärterin und einer Inklusionsbegleiterin. Drei Pädagogen für bis zu 11 Schülerinnen und Schüler – ein Betreuungsschlüssel, von dem die meisten Regelschulen nur träumen können.
Kleinere Klassen und viel Wertschätzung
Kilian Quilitz geht in die 7. Klasse
Kindern wie Kilian Quilitz kommt die intensive Betreuung zu Gute: Der 14-jährige war erst in der Grundschule einmal sitzen geblieben, dann auch an der Gesamtschule bevor er in die Förderschule kam. Hier gefällt ihm die kleinere Klasse besonders gut.
Ayleen Hannebauer ist froh über mehr Lehrkräfte
Ayleen Hannebauer mag an der Förderschule, dass es generell mehr Lehrkräfte gebe als in einer Regelschule. Das helfe ihr, sich zu konzentrieren und weniger dazwischen zu rufen. Die Kinder hätten bisher wenig stabile Strukturen erfahren, wenig Verlässlichkeit, so Sonderpädagogin Pia Stöcker. Das ist an der Förderschule anders. Da gibt es klare Grenzen, aber auch ganz viel Wertschätzung, Empathie und Verlässlichkeit. Und trotzdem seien Förderschulen in den Köpfen vieler sehr negativ besetzt, bedauert Pia Stöcker.
45 Prozent der Kinder mit Förderbedarf an Regelschulen
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf steigt seit Jahren in NRW. Im letzten Jahr waren es rund 152.630, wie das Statistische Landesamt IT.NRW mitgeteilt hat. Doch nur noch 55 Prozent davon besuchen die Förderschule, 2005 waren es noch 90 Prozent. Auslöser dieser Entwicklung war die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in NRW.
Rechtsanspruch auf Inklusion
Kleine Gruppen an der Förderschule ermöglichen besseres Lernen
Seit 2013 gilt in NRW ein Rechtsanspruch auf gemeinsames Lernen (GL) von Kindern mit und ohne besonderen Förderbedarf an Regelschulen. Den hatte die damalige grüne Schulministerin Sylvia Löhrmann gemeinsam mit der SPD durchgesetzt. Doch auf die flächendeckende Inklusion war das Land nicht vorbereitet, es fehlten vor allem Sonderpädagogen für die Regelschulen. Löhrmann hatte zwar selbst keine Förderschulen geschlossen, aber die Vorgaben zur Mindestgröße so verschärft, dass allein in ihrer Amtszeit mehr als 200 dicht machten. Besonders betroffen waren die Förderschulen für Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten.
Zahl der Förderschulen nimmt wieder zu – Nachfrage gestiegen
2019 war der Tiefpunkt mit 492 Förderschulen landesweit erreicht. Inzwischen ist die Zahl wieder auf 506 gestiegen. Offenbar gibt es mehr Eltern, die für ihre Kinder bewusst eine Förderschule suchen. So wie Nathalie Zierden aus Köln. Zwei ihrer fünf Kinder gehen inzwischen auf die Förderschule Auguststraße, nachdem sie in den großen Klassen an Regelschulen nicht klar gekommen seien.
Nathalie Zierden hat zwei Söhne an der Förderschule
Die Lehrkräfte würden sich zuerst um das Wohlbefinden der Kinder kümmern, das Lernen auch mal an die zweite Stellen setzen. Die Betreuung der Kinder sei sehr individuell und der Austausch mit den Eltern sehr regelmäßig und nicht nur einmal im Halbjahr wie an der Regelschule, so die Mutter im WDR-Interview. Da werde eigentlich die ganze Familie betreut. Deshalb sei sie der Schule sehr dankbar.
Alle Schulabschlüsse sind möglich
Für Schulleiter Jean-Dirk Rathke ist es wichtig, den Schülern Perspektiven zu geben. Deshalb pflegt die Schule enge Kontakte zu Unternehmen und vermittelt Schulpraktika – für den 15-jährigen Leon Klütsch die schönsten Wochen im Jahr. Er geht in die 9. Klasse und hat schon mehrere Praktika gemacht, erzählt er. Im Supermarkt habe es ihm besonders gut gefallen. Seine Lehrer hätten ihm geholfen, die Plätze zu finden.
Schulleiter Jean-Dirk Rathke will Kindern Chancen geben
Leon braucht beim Lernen mehr Zeit und kann nicht so gut zuhören. An der Hauptschule kam er deshalb nicht mit. Doch an der Förderschule will er jetzt den ersten Schulabschluss schaffen und danach eine Ausbildung machen – am liebsten im Supermarkt. Sein Ziel ist, sich später einmal um eine Familie kümmern zu können. Schulleiter Jean-Dirk Rathke freut sich über solche Erfolge. "Wir sind eine Schule, die Chancen eröffnet für Schülerinnen und Schüler, die im allgemeinen Schulsystem keine Chance mehr gehabt hätten“, so Rathke.
An seiner Schule würden manche auch den Realschulabschluss schaffen und danach sogar an einer anderen Schule die Hochschulreife erlangen. Nur etwa ein Fünftel verlasse die Schule ohne Schulabschluss.
Lehrkräftemangel auch an Förderschulen
Voraussetzung für diese Lernerfolge seien ausreichend Lehrkräfte. An der Kölner Förderschule sieht es gut aus, auch aufgrund ihrer Lage. Landesweit aber sind rund 1100 Stellen an Förderschulen nicht besetzt, weil Sonderpädagogen fehlen. Auch deswegen sei generell die Personalsituation schlechter geworden, bedauert Dirk Krist.
Dirk Krist von der Schulleitungsvereinigung VSF
Er ist im Vorstand der Schulleitungsvereinigung für Förderschulen Lernen, Emotionale und soziale Entwicklung sowie Sprache in NRW (VSF) und leitet eine Förderschule in Essen. Vor der Einführung der Inklusion hätte sich an Förderschulen ein Sonderpädagoge um fünf Schüler gekümmert, inzwischen muss eine Lehrkraft zehn Kinder betreuen, so Krist.
Überlastung und Gewalterfahrungen
Die Belastung der Sonderpädagogen ist groß, auch, weil sie regelmäßig schwierigen Situationen und auch Gewalt ausgesetzt sind. Das zeigt eine Befragung der Lehrergewerkschaft GEW NRW aus dem vergangenen Jahr. Danach waren 94 Prozent der befragten Förderschullehrkräfte in den letzten fünf Jahren körperlicher Gewalt ausgesetzt.
Pia Stöcker in Köln muss sich vor allem mit verbaler Aggression ihrer Schüler auseinandersetzen, vor allem Beleidigungen. "Das gehört zu unserem Job", so die Sonderpädagogin. Damit müsse man professionell umgehen, Nähe und Distanz wahren. Dennoch arbeitet sie gern an der Förderschule.
Sonderpädagogik-Studierende wollen an Förderschulen
Sonderpädagogik-Studierende wie Lara Junker erleben im Praxissemester die aktuellen Probleme der Inklusion hautnah. Sie werde gerade auch an einer inklusiven Grundschule eingesetzt, erzählt sie im WDR-Interview. Doch dort könne sie Kinder nur in Einzelsitzungen fördern. Das sei für sie das Gegenteil von Inklusion, bedauert Lara Junker. Nach dem Studium möchte sie gern an einer Förderschule arbeiten, am liebsten an die in Köln, in der sie gerade als Inklusionsbegleiterin tätig ist und Sonderpädagogin Pia Stöcker unterstützt.
Inklusionsbegleiterin Lara Junker brennt für ihren Job
Auch Stöcker brennt für ihren Job an der Förderschule. Selbst wenn nach Schulschluss für sie nicht Feierabend sei und sie lange Zeit lernen musste, sich abzugrenzen von Schicksalen und Rückschlägen. Aber die Schülerinnen und Schüler würden ganz viel zurück geben, das mache alles andere wieder wett. Sie hat deshalb nach ihrem Studium bewusst eine Vertretungslehrerstelle in der Förderschule angenommen.
Darüber berichten wir auch im WDR-Fernsehen: Am Sonntag, den 02.02.2025, ab 19:30 Uhr in der Sendung Westpol.
Quelle: IT.NRW, VSF, Gespräche in zwei Förderschulen, eigene Recherche