"In meinen schlimmsten Phasen habe ich acht Flaschen Korn pro Tag getrunken.“ Rüdiger Wasser hält kurz inne, nickt. "Über den Tag verteilt. Das war nur noch Pensumtrinken." Der Mann mit den kurzgeschorenen Haaren war nicht nur jahrelang massiv alkoholabhängig – er hat auch auf der Straße gelebt, 22 Jahre lang. Nun hat der Düsseldorfer seit knapp vier Jahren eine eigene Wohnung und ist vom Schnaps losgekommen.
Das Konzept, mit dem Rüdiger Wasser seine Wohnung bekommen hat, heißt "Housing First“. Obdachlose Menschen bekommen als erste Hilfe eine eigene Wohnung, mit Mietvertrag, ohne Vorbedingungen wie etwa eine erfolgreiche Suchttherapie. Dahinter steht der Gedanke, dass es in der Sicherheit der eigenen vier Wände einfacher gelingt, Probleme zu überwinden. Die schwarz-grüne Landesregierung hat sich für NRW das Ziel gesetzt, Wohnungslosigkeit bis 2030 zu beenden – und dafür will sie laut Koalitionsvertrag Housing-First-Projekte im ganzen Land umsetzen.
Housing First vs. Stufenmodell
Noch sei Housing First aber in NRW und Deutschland eher die Ausnahme, sagt Julia von Lindern vom Düsseldorfer Obdachlosen-Hilfsverein FiftyFifty. "Wir haben bisher in Deutschland überwiegend ein anderes System, nämlich dass obdachlose Menschen zunächst über Notunterkünfte, über Gemeinschaftsunterkünfte oder Obdachlosenheime untergebracht werden. Und am Ende gibt es dann quasi die finale Wohnung.“
In diesem "Stufenmodel“ müssten Obdachlose erst ihre Wohntauglichkeit unter Beweis stellen, so von Lindern. Housing First stelle die Hilfe "vom Kopf auf die Füße" und gebe den Obdachlosen, was sie am dringendsten brauchen: eine Wohnung.
Etwa 50.000 wohnungslose Menschen gab es nach offiziellen Zahlen im Sommer vergangenen Jahres in NRW. Wohnungslose Menschen sind aber nicht zwingend obdachlos - sie können auch bei Freunden unterkommen, in Not- oder Flüchtlingsunterkünften leben. Das NRW-Sozialministerium schätzt, dass 2021 rund 5.300 Menschen im Land auf der Straße oder in Behilfsunterkünften wie Abrisshäusern geschlafen haben, also im Wortsinne tatsächlich obdachlos waren.
"Bin froh, dass ich da nicht mehr mittendrin sitze"
Zu ihnen hat lange auch Rüdiger Wasser gehört. Für ihn ist die Wohnung, die er nach dem Housing-First-Prinzip erhalten hat, ein Segen. "Man kommt nach Hause, man kann die Türe zumachen, dem Stress von draußen aus dem Weg gehen." Gerade am Wochenende habe er beim Leben auf der Straße in der Düsseldorfer Altstadt viel Unangenehmes erlebt. Das Verhalten mancher Leute dort sei "unter aller Würde" gewesen. "Da bin ich schon froh, dass ich da nicht mehr mittendrin sitze, sondern in einem geschützten Raum."
Bei der Schaffung geschützter Räume ist FiftyfFifty aus Düsseldorf Vorreiter in NRW. In den vergangenen Jahren hat der Verein 54 Wohnungen für Housing-First gekauft, darunter auch die Wohnung für Rüdiger. Das Geld dafür stammt aus dem Verkauf von Kunstwerken, die von teils weltbekannten Künstlern wie Gerhard Richter gespendet werden, sowie aus anderen Geldspenden. Die Bewohner bekommen einen eigenen, unbefristeten Mietvertrag, müssen aber auch Miete zahlen – entweder durch eigene Jobs, oder das Jobcenter zahlt.
Mittlerweile ist aus FiftyFifty auch der Verein "Housing First Düsseldorf“ entstanden. Die Stadt finanziert dafür zwei Sozialarbeiterstellen. Seit November vergangenen Jahres hat dieser Verein 28 weitere Wohnungen für Obdachlose in Düsseldorf erschließen können.
Laumann: "Ganz hohes Interesse"
Drei Jahre lang hat das NRW-Sozialministerium die Durchführung des "Housing- First-Fonds“ finanziert. Soziale Organisationen können darüber eine Anschubsfinanzierung erhalten, um eigene Wohnungen zu kaufen. So sind bislang 87 weitere Wohnungen für Obdachlose entstanden, unter anderem in Mönchengladbach, Köln, Münster und Wuppertal. Den Fonds gibt es weiterhin – allerdings fehlen seit zwei Jahren die Landesgelder.
Zur Frage, ob das Land nächstes Jahr wieder Geld für Housing-First-Projekte geben wird, sagte Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) dem WDR-Magazin WESTPOL: "Wir werden das finanzieren. Da muss auch eine gewisse Stabilität rein. Ich habe persönlich an dieser Form der Armutsbekämpfung ein ganz hohes Interesse.“
In einem schriftlichen Statement sagt das Ministerium, dass im nächsten Jahr ein Konzept erarbeitet werden soll, wie Housing-First-Projekte in ganz NRW umgesetzt werden können. Gleichzeitig, betont das Ministerium, seien auch andere Ansätze im Kampf gegen Obdachlosigkeit wichtig. Zum Beispiel die Landesinitiative "Endlich ein ZUHAUSE“, bei der unter anderem sich Teams von Sozialarbeitern und Immobilienfachleuten bemühen, Menschen wieder in eine feste Wohnung bringen. Seit Juni 2019 hätten so 5.600 wohnungs- und obdachlosen Menschen in eine Wohnung vermittelt werden können.
Zentrales Mittel - oder nur ein Baustein?
Sozialarbeiterin Julia von Lindern von FiftyFifty sagt, Housing First helfe insbesondere dabei, "Drehtür-Klienten" zu versorgen. Also Obdachlose, die zeitweilig in einer Unterkunft unterkommen – am Ende aber doch wieder auf der Straße stehen. Weil sie sich mit Mitbewohnern in der Obdachlosen-WG verkrachen, sie ihre Hunde nicht mit in die Notunterkunft nehmen dürfen oder weil ihre Zeit in der temporären Wohnung endet und es ohne Job und mit schlechter Schufa keine dauerhafte Wohnung gibt.
Befürworter des Konzepts erwähnen zudem oft das Beispiel Finnland. Dort steht Housing First im Zentrum der nationalen Strategie gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit. In den vergangenen 30 Jahren hat sich die Wohnungslosigkeit im Land deutlich verringert. Das Land hat knapp ein Drittel so viele Einwohner wie NRW – aber nur etwa ein Zehntel so viele Menschen ohne Wohnung. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass beispielsweise in der Hauptstadt Helsinki enorm viele Wohnungen in öffentlicher Hand sind, was das Einrichten von Housing-First-Wohnungen sehr vereinfacht.
"Zu wenig preisgünstiger Wohnraum"
Direkt von der Straße in die eigene Wohnung - dass sei aber nicht für alle Obdachlosen die beste Lösung, betont Niels Back, Geschäftsführer der Diakonie Dortmund. Ihm gefalle der Grundgedanke, dass Wohnen ein Menschenrecht ist. Zudem sei das Modell eine gute Lösung, um Menschen, die seit langem auf der Straße leben, eine neue Perspektive zu eröffnen. Aber: "Für das, was ganz häufig ist, nämlich das Menschen nur relativ kurz in die Wohnungslosigkeit rutschen, braucht man so ein aufwendiges Instrument weniger.“
Auf dem überhitzten Wohnungsmarkt könnten sich soziale Träger den Kauf eigener Immobilien, um diese dann an Obdachlose zu vermieten, immer weniger leisten. Zwei eigene Housing-First-Wohnungen hat die Diakonie Dortmund mit Hilfe des entsprechenden Fonds finanziert. "Wir hätten für noch mehr Wohnungen die Anstoßfinanzierung bekommen – aber die Preise auf dem Markt sind einfach zu hoch." Das sei am Ende das Kernproblem beim Thema Wohnungslosigkeit, betont Back: "Es gibt zu wenig preisgünstigen Wohnraum." Menschen, die Sozialleistungen empfangen, könnten sich kaum noch Mieten leisten.
Das Licht am Ende des Tunnels
Rüdiger Wasser, der ehemalige Obdachlose aus Düsseldorf, hat es mit Housing First in eine eigene Wohnung geschafft. Und hat so Kraft geschöpft, andere Probleme anzugehen. Vom Alkohol loszukommen, hätte er auf der Straße nicht geschafft, sagt Wasser. "Aufhören zu trinken lohnt sich nur, wenn am Ende des Tunnels ein Licht kommt. Wenn du das siehst." Ein Licht, auf das viele Menschen auf den Straßen Nordrhein-Westfalens - gerade im kalten Dezember - hoffen dürften.