Die schwarz-grüne Koalition hat zwei Gutachten zur Reform des Kommunalwahlrechts ins Internet gestellt. Sie wurden von den Fraktionen der CDU und der Grünen beauftragt und waren zuvor nicht öffentlich zugänglich. Mit dem Schritt hoffen die Koalitionäre, vor allem die FDP zu besänftigen. Sie übt seit Monaten harsche Kritik an der Wahlrechts-Reform und will dagegen klagen.
FDP: Neues Wahlrecht "skandalös"
Das neue Kommunalwahlrecht war Anfang Juli im Landtag beschlossen worden. Während der Debatte dazu nannte FDP-Fraktionschef Henning Höne die Reform "skandalös" und forderte, dass die beiden Gutachten dazu veröffentlicht werden sollten. Dies hat die Grünen-Fraktion nun auf ihrer Homepage getan.
Eins der beiden Gutachten - das des emeritierten Mathematik-Professors Friedrich Pukelsheim - kritisiert die Reform. "Wir wollen jetzt das insgesamt sehr positive Gesamtbild öffentlich machen, um eine weitere Instrumentalisierung des Pukelsheim-Gutachtens zu verhindern", begründete Mehrdad Mostofizadeh von den Grünen die Veröffentlichung.
2025 erstmals Kommunalwahl nach neuem Recht
CDU und Grüne wollten bei der Reform des Kommunalwahlrechts die Opposition mit ins Boot holen und konnten immerhin die SPD überzeugen. Die oppositionellen Sozialdemokraten stimmten deshalb Anfang Juli in seltener Eintracht mit der Landesregierung. FDP und AfD stimmen geschlossen dagegen. Im Herbst 2025 steht die nächste Kommunalwahl in NRW an - dann werden neue Bürgermeister, Landräte und Gemeindevertretungen gewählt. Das jüngst überarbeitete Wahlrecht soll dort erstmals zur Anwendung kommen.
FDP und Landesregierung beschuldigen sich gegenseitig, Kommunalwahlergebnisse jeweils zu ihren Gunsten verzerren zu wollen. Denn die bisherige Art der Berechnung bevorteile eher kleine Parteien, unterstellen CDU und Grüne in ihrem Gesetzentwurf – während die FDP beklagt, der neue Modus komme eher mittleren und großen Parteien zu Gute.
Neuer Modus zur Berechnung der Sitz-Anzahl
Das reformierte Wahlrecht sieht einen neuen Modus vor zur Frage, wie die abgegebenen Stimmen in Ratssitze umgerechnet werden. Also wie beispielsweise aus dem Wahlergebnis "12,8 Prozent für Partei A" der Wert "das entspricht sechs Sitzen für Partei A im Stadtrat" errechnet wird.
Zuletzt wurde diese Berechnung bei Kommunalwahlen in NRW nach dem "Divisorverfahren mit Standardrundung nach Sainte-Laguë" durchgeführt. CDU, Grüne und SPD sind jedoch der Ansicht, dass dieses Vorgehen Kleinparteien bevorzugt - insbesondere dann, wenn ihnen nach ihrem Stimmenanteil nur etwa ein halber Sitz (Idealanspruch) zusteht. Das passiert immer wieder, weil es in NRW keine Sperrklausel mehr gibt, seit der Verfassungsgerichtshof des Landes zuerst die Fünf-Prozent-Hürde und schließlich auch die 2,5-Prozent-Hürde gekippt hatte. Weil keine halben Sitze vergeben werden, wird in solchen Fällen nach Sainte-Laguë regelmäßig von einem halben auf einen ganzen Sitz im Rat aufgerundet. In diesem Szenario seien Wählerstimmen für die Kleinpartei bei der Sitzverteilung etwa doppelt so viel Wert wie Stimmen für andere Parteien, so die Kritik.
Dieses Problem wollen CDU, Grüne und SPD mit dem nun beschlossenen, neuen "Quotenverfahren mit prozentualem Restausgleich" beseitigen. Entwickelt hat es der Grünen-Landtagsabgeordnete Simon Rock. Mathematiker Pukelsheim bezeichnet es deshalb auch als "Rock-Verfahren". Kernidee ist, "dass bezüglich der Verteilung der Restsitze der relative Abstand und nicht mehr der absolute Abstand zwischen Idealanspruch und tatsächlichen Sitzen minimiert wird", wie Rock formuliert. So werde einerseits "eine zu große Verzerrung zu Gunsten von Kleinstparteien vermieden". Andererseits sei zugleich "sichergestellt, dass systematische Verzerrungen des Wahlergebnisses zu Gunsten großer Parteien nicht auftreten können", so Rock.
Mathematik-Professor: Neus Wahlrecht "bevorzugt stärkere Parteien"
Doch das sieht Mathematik-Professor Pukelsheim anders: Das neue Verfahren "bevorzugt die stärkeren Parteien auf Kosten der schwächeren Parteien", schreibt er in seinem nun öffentlichen Gutachten. Es sei dem bisher durchgeführten Sainte-Laguë-Verfahren "unterlegen" und bilde "den Wählerwillen in einer Wahl weniger gut ab", so Pukelsheim. Immerhin: Das "Rock-Verfahren" sei "schlüssig und nachvollziehbar" dargestellt, urteilt der Professor. Es sei auch anderen Rechenwegen wie "dem D'Hondt-Verfahren zweifellos überlegen."
Grüne: "Wählerwille besser umgesetzt"
Die FDP sieht sich durch das Gutachten in ihrer Kritik bestätigt. Pukelsheims Ausführungen zeigten "eindringlich, dass das Wahlverfahren die Stimmen der Wähler mehr verzerrt als das bisherige und bewährte Verfahren", sagte Fraktionschef Henning Höne. Die Grünen widersprechen: Man beseitige mit dem neuen Rechenweg die Schwächen des Sainte-Laguë-Verfahrens. Bei dem komme es bisher "zu Verzerrungen bei der Berechnung der Mandate. Dieser Effekt wird durch das neue Sitzzuteilungsverfahren vermieden und damit der Wählerwille besser umgesetzt", so Mostofizadeh.
Reform laut Rechtsgutachten erlaubt
Weniger Wirbel als die Ausführungen des Mathematikers Pukelsheim erzeugt das Rechtsgutachten von Professor Markus Ogorek. Er hat untersucht, inwiefern die Reform des Kommunalwahlgesetzes mit der Verfassung des Landes vereinbar ist. Sein Fazit: Alles in Ordnung. "Der dem Gesetzgeber eingeräumte Gestaltungsspielraum ist durch eine Einführung des Quotenverfahrens mit prozentualem Restausgleich gewahrt, und dessen Ausgestaltung ist mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit vereinbar", fasst Ogorek zusammen.
FDP klagt vor Verfassungsgericht
FDP-Chef Höne räumt ein: "Das perfekte Modell gibt es nicht. Alle Modelle müssen in gewisser Art und Weise runden, müssen sich annähern." Dennoch: Seine Partei will vor dem NRW-Verfassungsgerichtshof gegen die von CDU, Grünen und SPD beschlossene Reform des Kommunalwahlrechts klagen - das hat der Landesvorstand beschlossen. Außerdem hat die FDP nun ein eigenes Gutachten in Auftrag gegeben. Das werde man nach der Fertigstellung unverzüglich veröffentlichen, betonen die Liberalen.
Die Berechnungsweise der Sitzverteilung wurde in Nordrhein-Westfalen - wie in der ganzen Bundesrepublik - in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder angepasst. So wurde laut NRW-Innenministerium bei der Kommunalwahl 1994 das D’Hondtsche Höchstzahlverfahren genutzt. 1999 und 2004 kam das Verfahren der mathematischen Proportion nach Hare/Niemeyer zum Einsatz. Seit 2009 bis zuletzt war schließlich das Divisorverfahren mit Standardrundung nach Sainte-Laguë maßgeblich.