"Ich hatte Angst vor ihr": Der schwierige Alltag in Jugendämtern
Stand: 17.11.2022, 17:06 Uhr
Immer wieder stehen Jugendämter in der Kritik. Zur Wahrheit gehört aber auch: Die Belastung in den Ämtern ist groß, Angst vor Gewalt kommt immer wieder vor, wie eine Insiderin berichtet.
Von Sabine Tenta
Erst die Aufsehen erregenden Missbrauchsfällen von Lügde und Münster, jetzt das achtjährige Mädchen aus Attendorn, das fast sein ganzes Leben zuhause verbringen musste: Werden solche Fälle bekannt, beginnt nach dem anfänglichen Entsetzen schnell die Fehlersuche. Oftmals rücken dann die Jugendämter in den Fokus. Hätte all das verhindert werden können? So lautet die gängige Frage.
Dabei lohnt sich ein genauerer Blick auf die Arbeit und die Herausforderungen der Jugendämter in NRW. Unter welchem Druck sie stehen, zeigt dieser aktuelle Fall: In Oberhausen wurden erst vor ein paar Tagen Mitarbeitende des dortigen Jugendamtes angegriffen. Die Stadt teilte dem WDR am Mittwoch auf Nachfrage mit, dass am 8. November Mitglieder einer jesidischen Familie mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angegriffen und verletzt haben.
Ein Mitarbeiter verletzt, zwei Familienmitglieder in Polizeigewahrsam
Die Stadt schildert den Vorfall so: "Grund für die Eskalation war der Ärger der Eltern, weil das Jugendamt ihre gerade volljährig gewordene Tochter auf deren eigenen Wunsch außerhalb der Familie jesidischer Herkunft untergebracht hatte." Die Eltern der jungen Frau und weitere Familienangehörige hätten kurz vor Dienstschluss das Dienstgebäude betreten und von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Herausgabe der jungen Frau gefordert.
"Nach anfänglichen verbalen Auseinandersetzungen kam es leider auch zu einem körperlichen Übergriff auf einen Mitarbeiter des Regionalteams. Bei dem Angriff wurde dieser Mitarbeiter verletzt und musste im Krankenhaus versorgt werden." Der Mann habe Strafanzeige bei der Polizei gestellt. Im Verlauf der Auseinandersetzung sei die Familie in weitere Büros gedrängt und habe dort Mitarbeiterinnen körperlich und verbal angegriffen.
Gegenstände seien umgeworfen, eine Mitarbeiterin mit einem Bürostuhl bedroht worden. Die Polizei habe zwei Familienmitglieder in Gewahrsam genommen. Die Stadt habe die Sicherheitsvorkehrungen im Amt erhöht und allen Mitarbeitenden psychologische Unterstützung angeboten.
Gewalt und ihre Androhung - kein Einzelfall
Sind die Jugendämter strukturell überlastet? Diese Frage stellt sich immer wieder. Wie groß das Personaldefizit ist, hat der WDR jüngst alle 186 Jugendämter in NRW gefragt. Einige von ihnen sind so überlastet, dass sie keine Zeit für eine Antwort hatten. Andere Kommunen sprechen von bis zu 30 Prozent vakanter Stellen.
Wie der Arbeitsalltag so ist, berichtet die Mitarbeiterin eines Jugendamtes im Ruhrgebiet anonym dem WDR. Die Androhung von Gewalt, die Angst bei Besuchen in den Familien - das kennt auch sie. Sie schildert den Fall einer deutschen Frau, "eher rechts orientiert", deren Sohn untergebracht werden sollte.
Gefährlich werde es immer dann, "wenn man den Eindruck hat, den Menschen sind die Folgen egal." Aber auch jenseits der Extremfälle gelte in ihrem Beruf: "Man ist immer in einem Konfliktfeld unterwegs." Das sei markiert durch Erwartungen vonseiten des Amtes ("es soll am besten nichts kosten") und den Auseinandersetzungen mit den Sorgeberechtigten.
Und dann ist da noch eine Riesenverantwortung, denn die Mitarbeitenden des Jugendamtes, so schildert sie es, haften persönlich - zivil- und strafrechtlich. Im schlimmsten Fall stehen am Ende staatsanwaltschaftliche Ermittlungen, Anklagen, Gerichtsprozesse, Verurteilungen. "Das hat es alles schon gegeben!"
Krankenstand und noch mehr Fälle
Selbst wenn ein Amt darauf achte, dass es eine Fallobergrenze pro Mitarbeiterin gibt, würden häufig die Fälle von erkrankten Kolleginnen und Kollegen noch hinzukommen. Und hinter "einer Akte" könne ein ganzer Berg von Aktenordnern stecken, in die sie sich einarbeiten müsse. Teilweise seien das 1.500 oder gar 2.000 Seiten.
Hinzu kommt, dass in den letzten Jahren der Beruf mit der Zuwanderung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen aus verschiedensten Kulturkreisen herausfordernder wurde. Hier gelte es jeweils angepasste Lösungen zu finden. "Manchmal kann ich über den Hodscha einer Moschee, den ich kenne, mehr erreichen, als wenn ich direkt in die Familie gehe."
"Die machen dich irre"
Und dann gebe es noch "psychisch kranke Menschen, die machen dich irre mit ihren Eingaben", erzählt die Jugendamts-Mitarbeiterin. Denn jede E-Mail, jeder Brief, jeder Anruf müsse ernst genommen und geprüft werden. Einschlägig Bekannte und ihre Motive sind zwar schnell erkannt - aber all das kostet Zeit und Nerven. Auch vor Rache-Aktionen sei man nicht sicher: "Mein Name steht in den Schriftstücken, einige machen mich verantwortlich für das Elend ihres Lebens." All das müsse man aushalten können.
Dass die Fachkraft aus dem Ruhrgebiet angesichts dieser Schilderungen von einer hohen Fluktuation des Personals in den Jugendämtern spricht, verwundert nicht. "Wer von der Fachhochschule zu uns kommt und nach ein, zwei Jahren weggeht, der bleibt auch weg", so ihre Erfahrung.
Nach Lügde mehr Meldungen ans Jugendamt
Nach den Fällen sexualisierter Gewalt gegen Kinder in Lügde, Bergisch Gladbach und Münster habe die Zahl der Meldungen wegen Kindeswohlgefährdung aus der Bevölkerung zugenommen. Von diesen Meldungen hätten die meisten - sie schätzt, es seien rund 80 Prozent - "ihre Relevanz".
Wünsche an Politik und Gesellschaft
Damit die Fachkräfte in den Jugendämtern ihre Arbeit bewältigen können und diese gerne machen, brauche es "die volle Rückendeckung der Vorgesetzten", Supervision, Kapazitäten für die Einarbeitung sowie eine bessere Bezahlung. Von den Behörden oder einem Landesgesetz festgesetzte Fallobergrenzen pro Mitarbeiterin/Mitarbeiter seien ebenfalls dringend nötig.
Und noch etwas wünscht sich die Jugendamts-Mitarbeiterin aus dem Ruhrgebiet: "gesellschaftliche Anerkennung". Sie sagt: "Wir arbeiten schon lange daran, dass wir nicht das Jugendamt sind, das die Kinder wegnimmt, sondern dass wir Hilfe bieten, damit Kinder und Erwachsene gut miteinander leben können."
Über dieses Thema berichten wir im WDR am 17.11.2022 auch im Fernsehen: Aktuelle Stunde, 18.45 Uhr.