Die jüngsten tätlichen Attacken auf Politiker sollen nicht folgenlos bleiben. "Wir brauchen umfassende Lösungen, zu denen zum Beispiel auch eine Stärkung des Staatsschutzes in NRW gehört", sagte SPD-Landtagsfraktionschef Jochen Ott am Montag. Er forderte auch eine "konsequente Strafverfolgung". Laut Ott muss klar sein: "Wer die Demokratie angreift, greift uns alle an und wird dafür hart bestraft."
Politiker im Wahlkampf körperlich attackiert
Auslöser der Debatte sind mehrere Vorfälle an den letzten Tagen: In Essen wurden zwei Grünen-Politiker nach eigenen Angaben nach einer Parteiveranstaltung attackiert - der Bundestagsabgeordnete Kai Gehring und der dritte Bürgermeister von Essen, Rolf Fliß. Der Kommunalpolitiker wurde bei dem Vorfall ins Gesicht geschlagen und leicht verletzt.
Der SPD-Europaabgeordnete Matthias Ecke wurde in Dresden von vier Tatverdächtigen angegriffen und schwer verletzt. Ecke musste operiert werden. Im niedersächsischen Nordhorn wurde laut Polizei ein AfD-Landtagsabgeordneter an einem Infostand geschlagen.
NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) betonte, Gewalt "gegen jede Art von Politik" sei "inakzeptabel". Das könne auch eine Politik sein, "die mir überhaupt nicht gefällt". Die Haltung in der Gesellschaft müsse sich ändern, sagte Innenminister Herbert Reul (CDU) im WDR. Polizeischutz für alle Wahlkampfhelfer könne aber nicht die Lösung sein.
Sicherheits-Leitfaden für Wahlkämpfer
"Es ist die Aufgabe der Sicherheitsbehörden, Demokraten zu schützen und Angriffe konsequent zu verfolgen", sagte Grünen-Landeschef Tim Achtermeyer. Die Grünen ließen sich durch Gewalt nicht abschrecken. Die Übergriffe in Dresden und Essen seien eine "dramatische Eskalationsstufe", sagte NRW-SPD-Generalsekretär Frederick Cordes.
Die Landes-FDP gibt ihren Wahlkämpfern einen Leitfaden mit Sicherheitshinweisen im Wahlkampf und bei Veranstaltungen an die Hand. Liberalen-Landeschef Hennig Höne sagte: "Gewalt darf niemals Mittel der politischen Auseinandersetzung sein. Wer in unserer Demokratie politisch aktiv ist, muss sich stets sicher fühlen. Dafür müssen alle Demokraten gemeinsam kämpfen."
Tausende Wahlkämpfer werden in den nächsten Wochen bis zur Europawahl am 9. Juni auf den Straßen Nordrhein-Westfalens unterwegs sein. Angesichts dieser Zahl hat Minister Reul recht: Die Polizei kann nicht jeden einzelnen Wahlkämpfer schützen.
Polizeigewerkschaft fürchtet mehr Fälle im Wahlkampf
Aber was kann die NRW-Polizei tun - und was tut sie bereits? "Es kommt immer wieder mal vor, dass die Polizei Personen- und Objektschutzmaßnahmen bei Bedrohungsszenarien durchführen muss. Bereits in der Corona-Pandemie hat es hier nach unserer Wahrnehmung eine Zunahme gegeben", sagte Michael Mertens, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei.
In jedem Einzelfall werde geprüft, wie die Bedrohung zu bewerten sei. Mertens: "Auf dieser Basis entscheidet die Polizei abgestuft, welche Schutzmaßnahmen im konkreten Fall notwendig sind. In manchen Fällen reicht es, wenn die Polizei regelmäßig Streife vor dem Wohnhaus einer bedrohten Person fährt." Im Extremfall könne die ständige polizeiliche Begleitung der bedrohten Person notwendig werden. "Wir als Polizei stellen uns darauf ein, dass es in Wahlkampfzeiten leider zu einer Häufung von Fällen kommen kann."
Forderung nach mehr Personenschutz
Die Linke in NRW ist "häufig von Übergriffen, auch außerhalb von Wahlkämpfen betroffen", sagt ihr Landessprecher Sascha H. Wagner. Er selbst habe auch bereits unter Polizeischutz gestanden. Zu Zeiten der Corona-Proteste von rechten "Schwurblern" sei das gewesen. Einschüchtern lasse man sich nicht. Wagner fordert ein härteres Vorgehen von Innenminister Reul "gegen rechte Strukturen" in NRW.
Neu ist Gewalt gegen Politiker nicht. 2015 wurde die parteilose Kandidatin Henriette Reker einen Tag vor der Oberbürgermeisterwahl in Köln bei einer Messerattacke lebensgefährlich verletzt. 1990 erlitt der damalige SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine ebenfalls lebensgefährliche Verletzungen bei einem Messerangriff in Köln.
Die Kölner Rathauschefin Reker forderte am Montag mehr Schutz auch für Kommunalpolitikerinnen und -politiker: "Bisher war es augenscheinlich ein Tabu, darüber zu reden, dass auch Personen außerhalb der Landes- und Bundespolitik Personenschutz bekommen. Dieses Tabu muss nun ein Ende haben."
Debattiert wird ebenfalls über die Ursachen der Gewaltbereitschaft. SPD-Mann Ott forderte unter anderem mehr politische Bildung in der Schule, um die Demokratie zu stärken: "Die Lehrpläne sind derart überfrachtet, dass für wichtige Themen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gar kein Raum mehr ist. Aber wo soll Demokratiebildung denn erfolgen, wenn nicht in der Schule?"