Anja Niederhausen unterrichtet seit fast 20 Jahren am Gymnasium in Ochtrup im Kreis Steinfurt. Jetzt verlässt sie ihre Komfortzone, wie sie sagt, und geht nach den Ferien für zwei Jahre an eine Grundschule in Datteln im Ruhrgebiet. Sie hat sich freiwillig für die Abordnung gemeldet und hält es als Beamtin auch für ihre Pflicht.
Dennoch könne sie den Unmut vieler verstehen, die das eigentlich nicht wollen. Scheinbar seien die Kriterien, nach denen über Abordnungen entschieden wurde, nicht für alle klar gewesen, sagt Anja Niederhausen im WDR-Interview. Wer kleine Kinder betreuen oder Eltern pflegen muss, wird meist nicht abgeordnet. Ansonsten bleibt es Schulleitungen überlassen, wen sie auf Anfrage der Bezirksregierung schicken wollen.
Große Unruhe an den Schulen
Doris Feldmann vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) in Münster hört von viel Frust an den Schulen. Für viele Lehrerkollegien sei es eine Zerreißprobe zu entscheiden, wer abgeordnet werden soll. Zudem entstünden Personallücken an den entsendenden Schulen, wie zum Beispiel an der Pötterhoekschule in Münster. Gleich drei von acht Klassenlehrerinnen werden nach den Sommerferien von hier nach Gelsenkirchen abgeordnet.
Wer die Lücken an der kleinen Grundschule schließen wird, scheint offen zu sein. Noch sei der gesamte Prozess der Abordnungen nicht abgeschlossen, teilt die Bezirksregierung Münster dem WDR auf Nachfrage mit. Die betroffenen Eltern haben zwar Verständnis für die Abordnungen, sind aber in großer Sorge, wie es nach den Ferien weitergehen wird, sagt Vater Niklas Bröking. Die Kinder leiden. Einige hatten Mitte Mai sogar vor der Bezirksregierung in Münster demonstriert, weil sie ihre Klassenlehrerin behalten wollten.
Abordnungen im Münsterland besonders in der Kritik
Im Ruhrgebiet sind besonders viele Lehrerstellen nicht besetzt, vor allem an Grundschulen. Die Lücken sollen durch Abordnungen für zwei Jahre kurzfristig geschlossen werden. Doch wegen der langen Wege wird das Lehrpersonal aus dem Münsterland nicht immer direkt an eine Grundschule im Ruhrgebiet geschickt. Stattdessen kommt es häufig zu einer Art Kettenabordnung: So wird zum Beispiel eine Lehrkraft von einem Gymnasium im Kreis Borken an eine Grundschule im selben Kreis abgeordnet, von dieser Grundschule dann eine andere Lehrkraft in den bedürftigen Kreis Recklinghausen geschickt.
Die schulpolitische Sprecherin der FDP-Landtagsfraktion, Franziska Müller-Rech, kritisiert dieses Verfahren.
"Bis zu drei Kollegien müssen verändert werden, um eine Lehrerstelle zu besetzen. Stattdessen sollten junge Lehrkräfte direkt an Schulen mit Mangel eingestellt werden. Hierfür müssen Anreize geschaffen werden, um Berufseinsteiger zu gewinnen – Ideen, die Ministerin Feller fehlen“, schreibt Müller-Rech dem WDR.
Außerschulische Abordnungen auf dem Prüfstand
Ideen für solche Anreize hat dagegen Doris Feldmann vom VBE. Neben den Abordnungen von Lehrkräften von Schule zu Schule gibt es auch Abordnungen ins Ministerium oder an Bezirksregierungen. Auch werden Lehrkräfte eingesetzt, um die Qualitätsanalyse des Unterrichts durchzuführen. "In der jetzigen Situation, wo wir nicht wissen, wie wir den nächsten Tag rumkriegen, da ist schwierig zu sagen, wir gucken jetzt noch mal auf Qualität“, so Feldmann. Abordnungen zu solchen Sonderaufgaben gehörten dringend auf den Prüfstand. Landesweit sind nach Angaben des Schulministeriums derzeit 480 Lehrkräfte außerhalb von Schulen abgeordnet.
Schulministerin sieht erste Erfolge
Schulministerin Dorothee Feller will aber wissen, wie der Unterricht läuft und deshalb keine Lehrkräfte bei der Qualitätsanlyse abziehen, betont sie im Interview mit dem WDR. Immmerhin sei die Zahl der unbesetzen Lehrerstellen auf 6000 gesunken.
Die Abordnungen von Lehrkräften an andere Schulen sollen keine Dauermaßnahme sein, so Feller. Sie verweist darauf, dass man mehr Studienplätze für das Lehramt geschaffen habe und den Seiteneinstieg in den Beruf weiter geöffnet habe. Aber diese Maßnahmen müssten erst noch wirken.
Schlechtes Zeugnis für Feller von der SPD
Die schulpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, Dilek Engin, wirft der Schulministerin Konzept-und Kopflosigkeit vor. Dorothee Feller sei als Verwaltungsfachkraft geholt worden, die Ruhe ins System bringen soll. "Das ist ihr bisher nicht gelungen“, stellt Dilek Engin fest. Das gelte auch für die Integration von Schülerinnen und Schülern aus dem Ausland, deren zunehmende Zahl das Problem des Lehrkräftemangels noch verschärft.
109.000 neu Zugewanderte an öffentlichen Schulen
Anfang Juni waren in NRW mehr als 100.000 neu Zugewanderte in den Schulen in der sogenannten Erstförderung, davon 43.000 aus der Ukraine, teilt das Schulministerium auf WDR-Nachfrage mit. In dieser ersten Zeit geht es darum, Deutsch zu lernen.
Nach zwei Jahren sollen die Kinder und Jugendlichen dann ganz normal in einer Klasse unterrichtet werden wie alle anderen. Das heißt: Nach den Sommerferien müssten rund 33.000 Flüchtlingskinder in den regulären Schulunterricht integriert werden.
Fast die Hälfte bleibt am Gymnasium
"Wir machen das mit Herzblut“ sagt Martin Sina, Schulleiter des Abtei-Gymnasiums in Brauweiler. Allerdings seien die Kapazitäten ziemlich ausgeschöpft. Es fehlen sowohl Personal als auch Räume. Zusätzliche Klassen könnten nicht gebildet werden, deshalb sitzen in seinem Gymnasium durchschnittlich 31 Kinder in einer Klasse. Wenn jetzt noch einmal so ein Schwung käme, wie zu Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, wüsste der Schulleiter nicht, wo er die Kinder unterbringen sollte.
Schulministerin Feller hat deshalb die Verlängerung der Erstförderung ermöglicht sowie Unterricht außerhalb der Schulgebäude. Allerdings müsse man dann ein gutes Konzept haben, nach dem die Kinder dennoch gut integriert werden und mit anderen Schülern in Berührung kommen, so Feller. Der schulpolitischen Sprecherin der FDP-Landtagsfraktion reicht das noch nicht: "Diese Mammutaufgabe sollte Feller nicht unterschätzen, sondern Förderprogramme auflegen, die Erleichterung bringen“.