"Wir haben zu jeder Zeit offen und transparent gehandelt", erklärte Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) am Freitag (01.07.2016) vor dem Untersuchungsausschuss zur Silvesternacht. Dort war sie als Zeugin geladen. Es sei ein "Fehler" gewesen, dass sie am 5. Januar nur mit einem schriftlichen Statement gegenüber einer Zeitung reagiert habe, erklärte Kraft. Aber auch in der Silvesternacht selber seien Fehler geschehen: "Ich glaube, dass es mehrere Formen von Fehlern gab", so die Ministerpräsidentin. Dies beziehe sich auf den Polizeieinsatz und die Zusammenarbeit der Behörden. Kraft sprach von "mehreren Fehlerdimensionen", die aufgearbeitet werden müssten. Die Opposition kritisierte unter anderem, dass Kraft anders als nach der Loveparade-Katastrophe und dem Germanwings-Absturz kaum direkten Kontakt zu Opfern gesucht hätte.
Die Ministerpräsidentin hatte zuvor bereits einiges getan, um ihre Ahnungslosigkeit zu dokumentieren. Per eidesstattlicher Versicherung hat Hannelore Kraft beteuert, erst am 4. Januar mit Innenminister Ralf Jäger (beide SPD) über die verstörende Kölner Silvesternacht gesprochen zu haben. Ihr Umfeld, sagt sie, habe die Dimension der Ereignisse nicht erkennen können und keinen Grund gesehen, sie zu informieren. Um das noch einmal zu untermauern, will Kraft den Abgeordneten des Untersuchungsausschusses die Telefonverbindungsdaten aus der Staatskanzlei zugänglich machen – für den Zeitraum von Neujahr bis zum Nachmittag des 4. Januars. Geschehen ist das noch nicht.
Was wird Hannelore Kraft vorgeworfen?
Die Opposition wirft der Ministerpräsidentin vor, viel zu spät auf die Ereignisse reagiert zu haben. Erst am 5. Januar gab Kraft ein erstes, schriftliches Statement ab – zu einem Zeitpunkt, als längst alle Welt über die Kölner Silvesternacht diskutierte. Vor einer Kamera äußerte sich die Ministerpräsidentin am 9. Januar beim Neujahrsempfang der Gelsenkirchener SPD. Zwei Tage später trat sie in der Talkshow "hart aber fair" auf. Warum reagierte Kraft so spät? Die Opposition vermutet, dass die Regierungschefin oder enge Mitarbeiter viel früher Bescheid wussten und die massiven Übergriffe von Flüchtlingen aus politischen Gründen vertuschen wollten. Einen Beweis für diese These gibt es bislang nicht.
Wie lautet Krafts Version?
Hannelore Kraft war über Silvester im Urlaub. Dort will sie nichts über die Ereignisse der Silvesternacht mitbekommen haben. Erst am Montag nach Neujahr, dem 4. Januar, habe sie im Pressespiegel der Staatskanzlei einen Bericht des "Kölner Stadt-Anzeigers" gelesen, der die Situation vor dem Hauptbahnhof beschrieb. Daraufhin, sagt Kraft, habe sie versucht, Innenminister Jäger telefonisch zu erreichen. Das klappte nicht auf Anhieb, Jäger rief aber um 13:41 Uhr zurück. Die beiden vereinbarten, dass Jäger am selben Tag ein Statement abgibt. Die Ministerpräsidentin wollte sich erst am nächsten Tag äußern und bat um weitere Informationen. Vor diesem Telefonat habe Kraft weder mit Jäger noch mit einem ihrer Mitarbeiter über die Silvesternacht gesprochen. Das versichert Kraft auch in der eidesstattlichen Erklärung.
Warum wurde Kraft nicht vorher informiert?
Die Kölner Kriminalwache setzte nach den Vorfällen am Hauptbahnhof mehrere WE-Meldungen ab - WE heißt "Wichtiges Ereignis". Die zweite dieser Meldungen ist von besonderer Bedeutung. Denn sie enthält eine knappe Schilderung der Übergriffe gegen Frauen. Es ist von elf Opfern die Rede, die begrabscht, beraubt und in einem Fall mit einem Finger vergewaltigt wurden. Als Verdächtige werden große Männergruppen nordafrikanischer Herkunft genannt. Die Wahrheit über die Silvesternacht lässt sich anhand dieser Meldung also bereits in Grundzügen erahnen.
Abgesetzt wurde die Meldung am 1. Januar um 14:36 Uhr vom Landeslagezentrum der Polizei. Die E-Mail ging an einen breiten Verteiler, unter anderem an den Innenminister und neun Adressen in der Staatskanzlei. Hannelore Kraft hat die E-Mail nicht bekommen, wohl aber ihr Regierungssprecher, die Chefin der Staatskanzlei und Krafts Büroleiter. Alle drei sagen, die Meldung gelesen, aber ihre Bedeutung nicht erkannt zu haben. Einen Grund, die Chefin im Urlaub zu stören, haben die drei Spitzenbeamten nicht gesehen. Ähnlich äußerte sich auch Innenminister Jäger. Die Meldung hätte nicht aus der Masse anderer Meldungen herausgeragt. Ein sofortiger Kontakt zu Kraft sei nicht zwingend gewesen.
Hat denn niemand die Brisanz der Meldung erkannt?
Im Umfeld von Kraft angeblich nicht. Es gab aber zwei hochrangige Beamte, die sehr wohl erkannt haben, dass die WE-Meldung brisant war. Der eine ist der für Polizeiangelegenheiten im Innenministerium zuständige Abteilungsleiter Wolfgang Düren. Im Innenausschuss sagte er, die Meldung sei "politisch bemerkenswert" gewesen und habe hohes "Verhetzungspotenzial". Statt tätig zu werden, wartete Düren aber ab. Der zweite, dem die WE-Meldung alles andere als alltäglich erschien, ist Kölns aus dem Amt geschmissener Polizeipräsident Wolfgang Albers. Vor dem Untersuchungsausschuss sagte er, ihm sei bewusst gewesen, dass die Angelegenheit "erhebliche Auswirkungen auf die Flüchtlingspolitik" haben würde. Trotzdem meldete sich Albers nicht beim Innenminister. Er ging offenbar davon aus, dass im Innenministerium schon die richtigen Schlüsse gezogen würden.