Muss Innenminister Ralf Jäger (SPD) nach den Vorfällen der Silvesternacht in Köln gehen? Das ist die Leitfrage, die über der Sondersitzung des Landtags am Donnerstag (14.01.2016) steht wie eine unsichtbare Leuchtschrift. CDU und FDP hatten die Sondersitzung beantragt, um den Innenminister und Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) in die Enge zu treiben. Die Landesregierung ist angeschlagen, die Opposition hat das Jagdfieber gepackt. Man kann sich vorstellen, was das im Landtag auslöste: Jede Menge Emotion, viel Geschrei, Polemik und Empörung.
Jäger wusste von Massenpanik und Übergriffen auf Frauen
Größter Aufreger: Innenminister Jäger gibt erst nach mehrfacher Aufforderung durch die Opposition Auskunft darüber, wann er selbst von den Vorfällen gewusst hat. Was er sagt, wird die Debatte um einen Rücktritt weiter befeuern. Demnach hat Jäger bereits am 1. Januar zumindest in Ansätzen erfahren, was in Köln vor sich gegangen ist. Jäger sagt, es habe am Neujahrstag drei WE-Meldung (Wichtiges Ereignis) aus Köln an das Ministerium gegeben. In der ersten um 3:15 Uhr ist von einer drohenden Massenpanik vor dem Dom die Rede. Um 14:36 Uhr ging die zweite Meldung raus. Darin werden elf Übergriffe "zum Nachteil von jungen Frauen" und 40 bis 50 Tatverdächtige erwähnt. Die Frauen seien begrapscht und bestohlen worden. Diese Meldung, sagt Jäger, "habe ich erhalten". Und auch eine dritte, terminiert auf 21:40 Uhr, sei ihm weitergeleitet worden. Darin werden weitere Anzeigen erwähnt und dass die Polizei Köln eine Ermittlungsgruppe eingerichtet habe.
Daraus folgt: Jäger wusste Bescheid. Allerdings, sagt er, habe es "keinen Überblick über die Dimension" dieser Attacken gegeben. Erst "Zug um Zug" sei er informiert worden. Dass er aber erst am 4. Januar - drei Tage später - das ganze Ausmaß gekannt haben will, wie der Sprecher Jägers dem WDR am Dienstag (12.01.2016) sagte, erscheint zumindest fraglich.
Reden, die wie ausgedehnte Rücktrittsforderungen klingen
Die Opposition hat ohnehin ihr Urteil über Jäger längst gefällt. Tonangebend dabei - wie meistens bei solchen Debatten - sind Armin Laschet (CDU) und Christian Lindner (FDP). Die beiden Fraktionschefs wollen Jägers Kopf. Das sagen sie aus taktischen Gründen zwar nicht direkt. Aber ihre Reden klingen wie zwei ausführliche Rücktrittsforderungen. Von "Vertrauenskrise" ist die Rede, von "Bankrotterklärung", von politischer Verantwortung, die Jäger übernehmen müsse - "wenn er doch nur einen Funken Anstand hätte". Es sind schwere Kaliber, mit denen Laschet und Lindner schießen. Dass die Munition streut und dabei Ministerpräsidentin Kraft trifft, ist gewollt.
Laschet: Donald Trump hat sich über uns lustig gemacht
Auch Kraft werfen die Oppositionspolitiker vor, zu spät reagiert zu haben. Erst am 5. Januar hatte sie eine kurze Stellungnahme abgegeben. Zu diesem Zeitpunkt war die Diskussion bereits in vollem Gange. Laschet kritisiert, während die ganze Welt über die skandalösen Ereignisse von Köln berichtet habe, und während sich Donald Trump im US-Wahlkampf über Deutschland lustig gemacht habe, sei von Kraft nichts zu hören gewesen. "Wir brauchen eine Ministerpräsidentin, die unser Land verteidigt", ruft er. In typischer Lindner-Manier heißt es beim FDP-Chef: "Die Kümmererin Nummer eins schert sich einen feuchten Kehricht um die innere Sicherheit."
Ein ganzes Paket neuer Maßnahmen
Wer wusste was wann? Das sind weiterhin die spannendsten offenen Fragen. CDU und FDP machen deutlich, dass sie jetzt nicht locker lassen wollen. Und Hannelore Kraft? Die Ministerpräsidentin ist sichtlich bemüht, nicht nur Vorwürfe zu parieren, sondern Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Und darum stellt sie im Landtag ein ganzes Paket an Maßnahmen und Initiativen vor. Die zweite Überraschung des Tages. Folgendes kündigt sie an:
- Für die Opfer soll es eine zentrale Anlaufstelle bei der Justiz geben
- Die Staatsanwaltschaften sollen personell verstärkt werden, um die Verfahren zügig zu bearbeiten
- 10.000 Euro insgesamt werden als Belohnung für Hinweise auf die Täter ausgelobt
- 500 Polizisten sollen "möglichst schnell" an Kriminalitätsschwerpunkten eingesetzt werden. Dabei geht es nicht um neue Stellen. Beamte vor der Pensionierung sollen länger bleiben dürfen. Außerdem sollen Assistenten eingestellt werden, die den Polizisten Verwaltungsarbeit abnehmen.
- Die Videoüberwachung soll ausgeweitet werden.
- Der Datenaustausch von Polizei und Justiz, national und international, soll intensiviert werden.
Untersuchungsausschuss rückt näher
Bei vielen dieser Vorschläge applaudiert auch die CDU. Kein Wunder, manche dieser Maßnahmen fordert sie seit Jahren. Es versteht sich von selbst, dass Kraft und auch der Grüne Mehrdad Mostofizadeh betonen, es gehe um die Verfolgung von Tätern, nicht darum, Menschen wegen ihrer Hautfarbe, Religion oder Nationalität unter Generalverdacht zu stellen. Auffällig ist die sicherheitspolitische Initiative gleichwohl. Vor Köln wäre das undenkbar gewesen.
Wie geht es nun weiter? Innenminister Jäger hat es nicht geschafft, sich freizuschwimmen. Er hat sich erstmals bei den betroffenen Frauen für die Fehler der Polizei entschuldigt. Aber von Rücktritt will er nichts wissen. Auch die Ministerpräsidentin und die Regierungsfraktionen stehen öffentlich hinter ihm. Die Opposition aber schießt sich auf Jäger ein. Ein Untersuchungsausschuss steht als Drohung im Raum. Für die SPD wird die Sache im Wahlkampfjahr zur ernsthaften Belastung.