Keine Medikamente: Kleine Patienten in Not
Doku & Reportage. 28.02.2023. 23:09 Min.. Verfügbar bis 02.03.2025. WDR.
Kleine Patienten in Not: Warum Medikamente weiter knapp sind
Stand: 14.09.2023, 13:24 Uhr
Keine Fiebersäfte, Inhalationstropfen oder Krebsmedikamente - und das sogar in Kinderkliniken. Wirklich gelöst ist das Problem der Lieferengpässe bei Medikamenten noch immer nicht. Wie kommen wir da wieder raus?
Von Jörn Seidel und Ben Bode
"Wir sind hier Dauerpatient", erzählte Ennos Mutter Tamara Stieck im vergangenen Winter dem WDR. Ihr Sohn war damals vier Jahre alt - und schon das dritte Mal innerhalb weniger Monate in der Mindener Kinderklinik. Wieder war es die Lunge, die Enno zu schaffen machte. Und wieder bereitete der Medikamentenmangel seiner Mutter Sorge.
Medikamente kaum oder gar nicht verfügbar
Enno und seine Mutter sind Dauergäste in der Kinderklinik.
Enno bekam eine Dauermedikation. "Das vorletzte Mal haben wir das erst gar nicht bekommen. Dann gab es erst ein alternatives Präparat, da mussten wir auch drei Tage drauf warten. Das letzte Mal war es auch wieder nicht vorrätig, und wir haben auch wieder fast eine Woche gewartet, bis es lieferbar war", erinnerte sich Tamara Stieck.
Bei seinem dritten Aufenthalt in der Kinderklinik in Minden brauchte Enno das Medikament Salbutamol gegen seine schwere Lungenentzündung - zum Glück war das nach Wochen wieder lieferbar. Aber was ist beim nächsten Mal? "Eigentlich ein Unding", sagte Tamara Stieck zum Medikamentenmangel.
Für Kinder sind solche Lieferengpässe besonders drastisch. Denn bei ihrer Behandlung können Ärztinnen und Ärzte nicht so einfach auf Ersatzmedikamente ausweichen - etwa wegen der Dosierung, aber auch aufgrund der Darreichungsform. So kann nicht jedes Kind Tabletten schlucken, andere akzeptieren keine Zäpfchen.
Die Gründe für den Medikamentenmangel sind vielfältig und komplex. Hier gehen wir ihnen auf die Spur und zeigen, welche politischen Ideen die Lösung bringen sollen.
Um den kleinen Enno und den Medikamentenmangel geht es auch in der WDR-Doku "Keine Medikamente: Kleine Patienten in Not" vom Jahresbeginn 2023. Sie zeigt, vor welchen Herausforderungen Kinder, Eltern, Ärzte und Pflegende stehen - und gibt seltene Einblicke ins Innerste der Klinik-Apotheke. Jetzt oben direkt hier im Artikel anschauen oder jederzeit in der ARD Mediathek:
Lieferengpässe bei Medikamenten haben zugenommen
Lieferengpässe bei Medikamenten - das ist kein neues Phänomen in Deutschland. Aber zuletzt war die Not besonders groß. Und gelöst ist das Problem noch nicht. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat dazu ein neues Gesetz auf den Weg gebracht, das Ende Juli 2023 in Kraft getreten ist. Mehr dazu weiter unten.
Aber was genau ist eigentlich die Ursache des Problems? Warum gab und gibt es bei zahlreichen Medikamenten Lieferengpässe, zum Beispiel bei Fiebersäften für Kinder, bei bestimmten Antibiotika, Krebsmedikamenten, Blutdrucksenkern und vielem mehr? Und warum haben die Engpässe über die Jahre zugenommen?
Allein von Januar bis August 2023 gab es bereits 705 Lieferengpassmeldungen für Medikamente.
Ursachen für den Medikamentenmangel
Die Ursachen für die Arzneimittel-Knappheit in Deutschland sind vielfältig. Dazu gehören:
- Erhöhte Medikamenten-Nachfrage wegen Krankheitswelle
- Preisdruck bei Generika, Marktkonzentration
- Abhängigkeit von asiatischen Zulieferern, gestörte Lieferketten
Erhöhte Medikamenten-Nachfrage wegen Krankheitswelle
Besonders dramatisch war die Situation im vergangenen Winter: Vor allem im Dezember 2022 erlebte Deutschland eine Hochphase an grippeähnlichen Erkrankungen und akuten Atemwegserkrankungen, berichtete das Robert Koch-Institut. Ein Grund dafür könnten nachgeholte Infektionen nach Aufhebung der meisten Corona-Schutzmaßnahmen sein, vermuteten Ärztinnen und Ärzte.
Das erklärt zumindest ein Stück weit die großen Engpässe bei Fiebersäften und bestimmten Antibiotika zum Jahresbeginn 2023 - nicht aber zum Beispiel den damals ebenfalls vorhandenen Mangel bei Krebsmedikamenten. Die Ursachen liegen tiefer und gehen vor allem auf den jahrelangen Preisdruck bei Generika, sprich Nachahmerprodukten, zurück.
Preisdruck bei Generika
Viel Geld macht die Pharmaindustrie vor allem mit neuen, innovativen Medikamenten. Für diese können die Hersteller bei den Verhandlungen mit den Krankenkassen einen hohen Preis verlangen, denn dahinter steckt teure Forschung. Nach einiger Zeit - meist um die zehn Jahre, so die Barmer - verliert das forschende Pharmaunternehmen den Patentschutz, und der Preiskampf beginnt.
Dann nämlich drängen Hersteller von Generika, also Nachahmerprodukten, auf den Markt. Verschärft wird ihr Konkurrenzkampf dadurch, dass die Krankenkassen individuell mit Generika-Herstellern Rabattverträge abschließen. Dahinter steckt die Absicht, die Kosten möglichst gering zu halten - nicht nur für die Kassen selbst, sondern auch für die Versicherten.
Generika machen fast 80 Prozent der verschriebenen Medikamente aus und sind wichtiger Bestandteil vieler Standard-Therapien. Bei der Behandlung von Alzheimer-Demenz, Brustkrebs oder auch Fettstoffwechselstörung kommen sogar nur noch Generika zum Einsatz, so das private IGIS-Forschungsinstitut.
Der Konkurrenzdruck ist das Eine. Das Andere: Die Generika-Hersteller erhalten für diese knapp 80 Prozent der Versorgung nach Abzug von Rabatten nur sieben Prozent der Summe, die die gesetzlichen Krankenkassen insgesamt für Arzneimittel ausgeben, so der Branchenverband Pro Generika.
Eine Folge: Marktkonzentration. Auf vielen Ebenen der Lieferkette seien Hersteller aus der Versorgung ausgestiegen, weil sich die Produktion nicht mehr rentiere, so der Verband. Das sieht man vor allem bei Paracetamol-Fiebersäften. Der letzte verbliebene deutsche Hersteller ist Teva mit seiner Marke Ratiopharm. Und dieser halte bei paracetamolhaltigen Fiebersäften einen Marktanteil von 95 Prozent, so Pro Generika. Trotzdem sei die Produktion nicht rentabel, beklagt Teva.
Steigt die Nachfrage - wie im vergangenen Jahr - sprunghaft an, lässt sich die Produktion nicht ebenso sprunghaft hochfahren. Das liegt vor allem an der Abhängigkeit von asiatischen Zulieferern. In Deutschland hatte das im Fall von Fiebersäften zur Folge, dass auch Ibuprofen-Säfte stark nachgefragt und teils knapp wurden.
Abhängigkeit von asiatischen Zulieferern - gestörte Lieferketten
Zwar werden in der Europäischen Union viele Generika hergestellt. Die Herstellung der dafür nötigen Wirkstoffe lohnt sich in vielen Fällen aber schon längst nicht mehr. Sie werden in Asien produziert, insbesondere in Indien und China.
Besonders deutlich wird das bei Antibiotika-Wirkstoffen. Mittlerweile bezieht die Europäische Union zwei Drittel ihres Bedarfs aus chinesischer Produktion. Vor zwanzig Jahren war es nur halb so viel, wie Daten der Vereinten Nationen zeigen.
Infolge der Corona-Pandemie kam es immer wieder zu Produktionsausfällen und gestörten Lieferketten - und die Störungen halten zum Teil an. Mal musste die Produktion in Asien wegen eines Corona-Ausbruchs ruhen, mal waren Häfen geschlossen, mal kamen die Transportunternehmen nicht hinterher.
Ein weiteres Problem: Die Wirkstoffe aus Asien seien gelegentlich verunreinigt und könnten dann nicht verwendet werden, beklagen europäische Arzneimittelhersteller.
Hinzu kommen geopolitische Sorgen: Was ist zum Beispiel, wenn China seinen Partner Russland beim Krieg gegen die Ukraine plötzlich stark unterstützen sollte und sich als Folge die europäisch-asiatischen Beziehungen deutlich verschlechtern würden? Wie lange müssten Kinder in deutschen Kliniken dann auf heilende Medikamente warten?
Ennos Arzt zeigt ein wenig Hoffnung
Prof. Dr. Bernhard Erdlenbruch
Unter Ärzten, Apothekern, Eltern von kranken Kindern und auch erwachsenen Patienten sorgt der Medikamentenmangel für viel Unmut und nicht selten für Verzweiflung. Die Frage ist, welche Abhilfe das neue Gesetz schaffen kann. "Ob sich durch die politischen Maßnahmen tatsächlich eine Entspannung ergeben wird, müssen wir dann abwarten", sagte Bernhard Erdlenbruch, behandelnder Arzt des vierjährigen Enno mit der Lungenentzündung, bereits zu Beginn des Jahres.
"Ich glaube, das Problem ist aber ganz klar angekommen, sowohl bei den Kassen als auch bei den Politikern", so Erdlenbruch damals. Er ist Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin in Minden, die zu den Mühlenkreiskliniken gehört, und zugleich Leiter der Kommission für Arzneimittelsicherheit im Kindesalter.
Welche Lösungsansätze gegen den Medikamentenmangel gibt es konkret?
Schon seit Anfang Februar haben die Krankenkassen auf Drängen von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) die Festbeträge für einige Medikamente vorübergehend ausgesetzt. Es geht um Arznei mit Ibuprofen und Paracetamol sowie um Antibiotika als Zäpfchen oder in flüssiger Form.
Das aber betrifft nur einen kleinen Teil des Medikamentenmangels. Daher gibt es seit Ende Juli 2023 ein neues Gesetz. Das sind die Kernpunkte:
- Für alle Medikamente mit Rabattverträgen der Krankenkassen sollen Hersteller bei sich einen Vorrat anlegen müssen. Dieser soll so groß sein wie eine durchschnittliche Liefermenge für sechs Monate.
- Für Kindermedikamente soll es keine Rabattverträge mehr geben, mit denen Preise für die Kassen als Großabnehmer gedrückt werden. Hersteller sollen ihre Abgabepreise auch einmalig um bis zu 50 Prozent des zuletzt geltenden Festbetrags anheben dürfen.
- Die Generika-Hersteller sollen für einen Sicherheitspuffer zu "einer mehrmonatigen Lagerhaltung" verpflichtet werden - in Absprache mit den Krankenkassen. Auch Krankenhaus-Apotheken sollen zu mehr Vorräten verpflichtet werden.
- Bei Antibiotika sollen die Krankenkassen verstärkt auf Mittel aus europäischer Produktion zurückgreifen. Es soll nicht nur der billigste Anbieter weltweit zum Zuge kommt, sondern auch der günstigste Anbieter aus der EU. Das soll die Herstellung in Europa attraktiver machen.
- Apotheken sollen einfacher Arzneimittel austauschen können. Sie sollen künftig alle rezeptpflichtigen Medikamente, die nicht innerhalb einer angemessenen Zeit lieferbar sind, gegen ein verfügbares, wirkstoffgleiches Präparat austauschen dürfen.
- Das Bonner Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte soll ein Frühwarnsystem etablieren, um zukünftig frühzeitig Lieferengpässe zu erkennen.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach
Bundesgesundheitsminister Lauterbach zeigte sich im September 2023 optimistisch: Er sehe eine stabilere Versorgung mit Kinderarzneimitteln in diesem Herbst und Winter. Dank Produktionssteigerungen der Hersteller sei man nun deutlich besser aufgestellt als im Vorjahr. Falls die kommende Infektwelle nicht viel stärker als üblich sei, werde man dem Problem Herr werden können. Er appellierte aber auch an die Solidarität der Eltern: "Bitte keine Hamsterkäufe."
Mit dem Gesetz waren allerdings im Vorfeld nicht alle einverstanden. Kritikern gehen die beschlossenen Maßnahmen nicht weit genug. Zum Beispiel fordert die Linken-Bundestagsfraktion die komplette Abschaffung des Rabattsystems für Generika.
Andere fordern, dass die Produktion aus Asien noch viel stärker nach Europa zurückgeholt wird. "Entscheidend ist, dass eine Wiederansiedlung und Sicherung der pharmazeutischen Industrie in Europa in Gang gesetzt wird", teilte zum Beispiel die Kassenärztliche Bundesvereinigung auf WDR-Anfrage mit.
Der Verband der Forschenden Arzneimittelhersteller hingegen hält das für den falschen Weg. Denn so werde lediglich global nicht wettbewerbsfähige Fertigung in Deutschland dauerhaft subventioniert. Bedeutet: Zahlen müsste am Ende der Steuerzahler - oder der gesetzlich Versicherte, vermutlich mit höheren Krankenkassenbeiträgen.
Der vierjährige Enno in der Mindener Kinderklinik bekam von alldem nicht viel mit. In den Nächten im vergangenen Winter musste er wegen seiner Lungenentzündung alle zwei Stunden inhalieren. Das Medikament schlug an. Zu seinem Glück war es vorrätig. Wer weiß, wie es das nächste Mal sein wird.