Explosion in Köln

Organisierte Kriminalität in NRW und die fehlende Angst vor dem Staat

Stand: 03.10.2024, 11:41 Uhr

Die Anschlagsserie in NRW zeigt eine neue Dimension Organisierter Kriminalität, sagt der Jurist Arndt Sinn: Die Banden tragen Konflikte im öffentlichen Raum aus und fürchten offenbar keine Strafverfolgung. 

NRW-Innenminister Herbert Reul sprach von einer neuen Form der Brutalität. Was er meinte, sind mehrere Anschläge in Nordrhein-Westfalen in den vergangenen Monaten und die mutmaßlichen Hintergründe. Vor allem in Köln eskalierte es zuletzt, als es innerhalb von nur wenigen Tagen mehrere Anschläge gab.

Die Spuren führen unter anderem zur sogenannten "Mocro-Mafia - das sind kriminelle Banden, die seit Jahrzehnten vor allem in den Niederlanden und Belgien aktiv sind. Dabei geht es um Drogenhandel, Geldwäsche, Entführungen und Auftragsmorde.

Arndt Sinn von der Universität Osnabrück forscht zu Organisierter Kriminalität und ordnet im Interview mit dem WDR ein, was gerade in NRW vor sich geht.

Organisierte Kriminalität in NRW

WDR 5 Neugier genügt - Freifläche 02.10.2024 12:50 Min. Verfügbar bis 02.10.2025 WDR 5


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WDR: Warum nehmen die Vorkommnisse auf einmal so zu? Es heißt, ein missglückter Drogendeal stecke dahinter.

Arndt Sinn: Was dahinter steckt, das wird man noch genau erheben müssen. Die Strafverfolgungsorgane sind alarmiert. Das Ausmaß der Gewalt ist in der Tat eine neue Dimension. Was vorangegangen sein muss, ist wohl ein Konflikt. Dieser Konflikt wird nun offen im öffentlichen Raum ausgetragen. Das ist etwas, das natürlich die Bevölkerung einschüchtert und in Angst versetzt. Darauf müssen die Polizei und die Staatsanwaltschaft endlich Antworten finden.

WDR: Was bedeutet Organisierte Kriminalität? Ab wann sprechen wir von organisierter Kriminalität?

Professor Arndt Sinn von der Universität Osnabrück

Professor Arndt Sinn von der Universität Osnabrück

Arndt Sinn: Das Phänomen Organisierte Kriminalität zu erfassen, ist nicht so einfach. Denn die Organisierte Kriminalität hat viele Gesichter. Das eine Gesicht, das brutale Gesicht, das sehen wir im Moment in Nordrhein-Westfalen – mit Menschenhandel, mit Folteraktionen, mit Drogenhandel. Organisierte Kriminalität hat aber auch andere Erscheinungsformen. In der Wirtschaft gibt es organisierte Kriminalität. Im Bereich der Produktfälschungen gibt es organisierte Kriminalität.

Wenn man das mal runterbrechen will, was Organisierte Kriminalität ist, dann kann man ziemlich schnell fünf Elemente finden: Das sind mindestens drei Personen, die längerfristig zusammenarbeiten, die ein Mindestmaß an langfristiger Vorausplanung mitbringen und die einen bestimmten Willen haben, gemeinsam Straftaten zu begehen. Und jetzt kommt das Fünfte. Sie begehen schwere Straftaten als Mitglied einer kriminellen Vereinigung.

WDR: Die Banden scheinen wenig Rücksicht darauf zu nehmen, dass auch Unbeteiligte und Unschuldige zu Schaden kommen können. Spielt das überhaupt noch eine Rolle bei den Aktionen?

Arndt Sinn: In der Tat scheint das keine Rolle mehr zu spielen. Denn grundsätzlich versucht Organisierte Kriminalität, Geld zu verdienen. Also profitabel durch kriminelle Aktionen ihr Vermögen zu mehren auf Kosten anderer. Das gelingt natürlich nur dann, wenn Sie Gewalt möglichst im öffentlichen Raum vermeiden. Denn Gewalt im öffentlichen Raum bedeutet, dass der Strafverfolgungsdruck erhöht wird, es werden Beweise auffällig und so weiter. Dann können auch die Geschäfte nicht mehr so ruhig geführt werden. Wenn jetzt diese Gewalt im öffentlichen Raum ausgetragen wird, dann ist es ein ganz klares Zeichen an zwei Seiten: An die Seite der rivalisierenden Banden, nämlich wir werden jedes Mittel wahrnehmen, um diesen Markt zu erobern oder um uns zu verteidigen. Und:

"Es ist ein Zeichen an den Staat, nämlich: 'Wir nehmen euch nicht mehr als wehrhaft wahr, ihr werdet uns sowieso nicht kriegen.' Das ist ein sehr besorgniserregendes Signal." Arndt Sinn, Jurist

WDR: Warum gibt es diese Angst vor der Strafverfolgung nicht mehr?

Arndt Sinn: Die Angst vor der Strafverfolgung müsste ja bedeuten, dass man Bedenken hat, dass man selbst gefasst wird. In den vergangenen Jahrzehnten war die Strategie gegen organisierte Kriminalität immer, das Produkt, also in der Regel die Drogen, aus dem Markt zu nehmen. Deshalb feiert man ja auch Ermittlungserfolge, wenn man im Hamburger Hafen tonnenweise Kokain findet. Das ist ja auch richtig und wichtig. Da gibt es auch Erfolge.

Aber wir müssen sehen, dass diese kriminellen Banden, diese organisierte Kriminalität, aus Strukturen lebt. Das sind Netzwerke, das sind Hierarchien. Arndt Sinn, Experte für Straf- und Strafprozessrecht

Man muss dort an die entscheidenden Punkte herankommen über Strukturermittlungen. Diese Strukturermittlungen sind aber langwierig, teuer, ressourcenraubend und nicht immer erfolgreich. Wir müssen es uns einfach leisten können, mehr in diese Strukturermittlungen zu investieren, die entscheidenden Personen in diesen Gruppierungen zu finden. Das ist in der Vergangenheit nicht ausreichend geschehen.

WDR: Warum ist Nordrhein-Westfalen so attraktiv für die Machenschaften dieser Banden? Wo steht NRW?

Arndt Sinn: Warum Nordrhein-Westfalen? Weil eben da ein Ereignis offensichtlich stattgefunden hat zwischen zwei oder mehreren rivalisierenden Gruppierungen und deshalb wird eben dieser Kampf jetzt dort ausgetragen. Das hätte aber auch an jedem anderen Ort passieren können, an dem rivalisierende Gruppierungen aufeinandertreffen oder eben um Märkte streiten.

WDR: Aber die Orte, an denen jetzt Anschläge stattfinden, sind ja nicht zufällig ausgewählt. Warum passiert es ausgerechnet da?

Explosion in Köln

Explosion in der Kölner Innenstadt im September 2024

Arndt Sinn: Das weiß man noch nicht. Oder jedenfalls weiß ich es noch nicht. Ich kann nicht sagen, warum das gerade diese Orte sind. Auffällig ist nur, dass es eben im öffentlichen Raum stattfindet. Das ist nicht mehr der geschlossene, abgeschottete Bereich. Das ist nicht mehr unter der Eisenbahnbrücke oder das ist nicht der Container, sondern das ist der öffentliche Raum und das ist neu.

WDR: Inwiefern kommen diese Banden jetzt möglicherweise mit ihren kriminellen Strukturen anderen in die Quere - etwa aus dem Rockermilieu? Ist das möglicherweise auch ein Pulverfass?

Arndt Sinn: Solche Zusammenstöße sind immer Pulverfässer, die sehr hochexplosiv sind. Und immer, wenn ein Ereignis, Streitigmachen eines Marktes oder eben Abhandenkommen einer bestimmten Lieferung oder Nichtbezahlen einer bestimmten Lieferung im Raum steht, dann muss dieser Konflikt gelöst werden unter den Gruppierungen. Die einen setzen eben auf Vermittlung und die anderen setzen auf Gewalt.

"Hier scheinen wir ein sehr hohes Gewaltpotenzial zu haben, das von gewaltaffinen Akteuren ausgeht, die gewalterfahren sind und die diesen Strafverfolgungsdruck nicht mehr fürchten und deshalb zu diesen Mitteln greifen." Arndt Sinn, Uni Osnabrück

WDR: Welcher Geschäftszweig wird das in NRW hauptsächlich sein? Ist das der Drogenhandel?

Arndt Sinn: Vermutlich der Drogenhandel.

WDR: Welche Rolle spielt denn die Teillegalisierung von Cannabis, die es jetzt gegeben hat, für die Eskalation?

Arndt Sinn: Die Teillegalisierung von Cannabis leidet an einem ganz entscheidenden Fehler: Ein Produkt zu legalisieren, aber keinen legalen Markt dafür geschaffen zu haben. Das war voraussehbar, dass es dann eben zu Verwerfungen im rechtlichen Bereich kommt. Und dass es möglicherweise dann auch zu Kämpfen um diesen noch illegalen Markt kommt, der ein legales Produkt oder jedenfalls den legalen Konsum dann im Auge hat. Und ob da jetzt Ursache und Wirkung zu eng beieinander liegen, das wird man auch im Nachhinein erheben können. Aber dieser Webfehler in diesem Gesetzeswerk, vor dem übrigens auch Experten deutlich gewarnt haben, der war von vornherein angelegt.

"Wenn man jetzt eben einen Markt hat, der so hoch attraktiv ist, dann liegt es auch nicht fern, dass das möglicherweise in Zusammenhang damit steht." Arndt Sinn, Uni Osnabrück

Wie viel Angst ist denn tatsächlich angebracht, wenn man zum Beispiel auch im Kölner Nachtleben unterwegs ist?

Arndt Sinn: Sorge ist angebracht, weil man ja nicht weiß, wo möglicherweise der nächste Anschlag stattfindet und man sich dann zufälligerweise in dieser Gegend befindet. Aber natürlich muss man auch sehen: Man kann sich jetzt nicht von jedem öffentlichen Platz fernhalten. Das sollte man auch nicht. Aber man sollte die Augen offen halten bei Auffälligkeiten sofort die Polizei informieren.

Das Interview führte Tobi Schäfer für WDR 5. Es wurde für die Online-Version gekürzt und sprachlich leicht bearbeitet.