Die Chance, die katholische Kirche zu verbessern, lag in seinen Händen. Das dachte Oliver Vogt zumindest, als er 2015 zum Interventionsbeauftragten, dem ersten hauptamtlichen Missbrauchsbeauftragten des Erzbistums Köln, ernannt wurde. Vier Jahre später kündigte er - und trat aus der Kirche aus.
Jetzt trifft der 53-Jährige seinen ehemaligen Arbeitgeber wieder. An diesem Mittwoch sagt er als Zeuge in einem Gerichtsprozess aus, in dem der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki gegen die "Bild"-Zeitung klagt. Es geht darum, ob die Zeitung schreiben darf, dass Woelki einen des Missbrauchs beschuldigten Priester beförderte, obwohl er schon von dessen Taten wusste.
Zweifel an Eidesstattlicher Versicherung von Kardinal Woelki
Woelki hat in dem Prozess eine Eidesstattliche Versicherung abgegeben. Weil es an ihrem Wahrheitsgehalt Zweifel gibt, ermittelt nun die Staatsanwaltschaft gegen den Kardinal. Oliver Vogt begrüßt das Ermittlungsverfahren. "Aus meiner Sicht ist das die richtige Institution, um die Vorwürfe aufzuklären und Licht in das Dunkel der Aussagen zu bringen."
Oliver Vogt jedenfalls kannte den Priester und seine Geschichte. Was er vor Gericht sagen wird, will er vorab nicht preisgeben. Klar ist allerdings: Er muss an diesem Tag in die Vergangenheit reisen. Obwohl er eigentlich das Erzbistum und die Kirche weit hinter sich lassen wollte.
Kölner Erzbistum: "Niemand hat seine Fehler eingeräumt"
Rückblick: Für den Kölner Kardinal sollte Oliver Vogt 2018 eine beauftragte Missbrauchs-Untersuchung vorbereiten. Dafür redete er auch mit vielen Verantwortlichen im Bistum. Er erzählte ihnen, was Priester Kindern angetan hatten und von seinen Gesprächen mit den Betroffenen, die bis heute unter den Erfahrungen aus ihrer Kindheit litten. Leid, das die Kirche hätte verhindern können, wenn Täter angezeigt und nicht einfach versetzt worden wären. "Aber", sagt Oliver Vogt resigniert, "obwohl wir sogar gemeinsam Akten gelesen haben, hat niemand seine Fehler eingeräumt."
Die Mauern des Schweigens durchbrechen
"Das war für mich unerträglich", erinnert sich Vogt im WDR-Gespräch. Er selbst habe den Betroffenen immer das Gefühl geben wollen, dass ihre Anliegen - endlich, nach vielen Jahren - wirklich gehört werden. Er wollte die Mauern des Schweigens durchbrechen.
Anke S. und Angelika V. haben genau das mit Oliver Vogt erlebt. "Er war für uns eine neue Chance", sagen die Zwillingsschwestern dem WDR. Jahrelang wurden sie als Kinder von ihrem Onkel, einem weiteren Priester, missbraucht. Erst Oliver Vogt machte ihnen so viel Mut, dass sie sich trauten, vor Gericht zu gehen.
Der Täter wurde zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Aber vor allem, was während des Verfahrens an Aufklärung stattfand, war im Vergleich zur kircheneigenen Aufklärung beeindruckend. Dabei wollte Rainer Maria Woelki eigentlich aufklären, da ist sich Oliver Vogt sicher.
Erste Missbrauchs-Studie verschwand plötzlich
"Kardinal Woelki hat trotz aller Widerstände Dinge in Bewegung gesetzt", sagt Vogt. "Er hat mich als Beauftragten eingesetzt, eine Studie in Auftrag gegeben und einen Betroffenen-Beirat gegründet." Doch all diese positiven Ansätze, sagt Vogt, haben sich dann "leider ins absolute Gegenteil verkehrt."
Wie konnte es dazu kommen? Eine erste Missbrauchs-Studie verschwindet plötzlich in der Schublade. Betroffene aus dem Beirat fühlen sich vom Kardinal instrumentalisiert. Sein Missbrauchsbeauftragter tritt aus der Kirche aus.
Hat Kardinal Woelki die falschen Berater?
Oliver Vogt sagt, sein Verhältnis zu Kardinal Woelki sei immer gut gewesen. Aber der Kardinal habe falsche Berater: Aktuelle und ehemalige Verantwortliche in der zweiten Reihe, die immer noch eher die Kirche und sich selbst schützen wollen. "Die haben unglaublich viel Druck gemacht, waren in Zirkeln eng vernetzt und haben versucht, viele Dinge zu verhindern, zu blockieren oder in ihrem Sinne zu beeinflussen."
Oliver Vogt machte dieser Kampf hinter den Kulissen regelrecht krank. Er kündigte 2019 und trat 2021 aus der Kirche aus. Obwohl er dort viele Jahre sehr engagiert war. "Die drastischen Unterschiede zwischen der Botschaft des Evangeliums und dem Handeln der Verantwortlichen haben mich verzweifeln lassen", sagt er.
Auch den Gemeinden vor Ort macht Oliver Vogt Vorwürfe: "Es wurde weggeschaut, ignoriert und verleugnet." Wie viel Schaden das anrichten kann, weiß Vogt mittlerweile aus seinem Privatleben. Denn auch seine Lebensgefährtin machte diese Erfahrung. Sie wurde über Jahre Opfer von sexuellem Missbrauch durch einen inzwischen verstorbenen Pfarrer und leidet, wie viele Betroffene auch, bis heute massiv unter den Folgen dieser Taten.
Ein Leuchtzeichen setzen
Gemeinsam mit ihr und anderen gründete Oliver Vogt im März 2022 in Köln die alternative Beratungsstelle "Leuchtzeichen", für Betroffene von sexualisierter Gewalt durch Kirchenmitarbeiter. Finanziert durch Spenden, um absolut unabhängig von der Kirche beraten zu können. Oliver Vogt arbeitet dort ehrenamtlich. Hauptberuflich ist er jetzt Chef der Schulverwaltung der Stadt Solingen.
Ob er die Kirche, in der er viele Jahrzehnte Mitglied war, ein bisschen vermisse? Kurz zögert Oliver Vogt. Aber dann spricht er klar und analytisch. Nein, er vermisse die Institution Kirche nicht. "Ich erlebe die Kirche als ein starres System, das sich nicht oder nur in sehr kleinen Schritten bewegen will."
Kardinal Woelki auf der Anklagebank?
Wenn die Kirche sich bewegt, dann oft durch einen Schubser von außen. Den könnte es am Mittwoch im Kölner Landgericht geben. Dann nämlich, wenn Oliver Vogt tatsächlich bestätigen würde, dass der Kardinal mehr gewusst hat, als er zugeben will. Aus den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft könnte dann eine Anklage werden. Und ein Kardinal auf der Anklagebank – das könnte schon für ein kleines Erdbeben sorgen.