"Ich hatte eineinhalb Jahre keinen Kühlschrank, weil mir das Geld für einen Ersatz fehlte", "Aktuell gebe ich viel mehr Geld für meine Ernährung aus, als im Regelsatz vorgesehen ist und kann trotzdem kaum Gemüse oder Obst essen" - das sind Zitate von Personen, die unter der statistischen Armutsgrenze leben und für den Armutsbericht befragt wurden.
Die Corona-Pandemie, Inflation - alles Gründe dafür, dass mehr Menschen in Deutschland unterhalb der Armutsgrenze leben. In NRW liegt die Quote bei 19,2 Prozent und damit über dem Durchschnitt von 16,9 Prozent. Es ist der höchste Wert, den der Paritätische Wohlfahrtsverband jemals gemessen hat. Das geht aus dem aktualisierten Armutsbericht für das Jahr 2021 hervor, der am Freitag veröffentlicht wurde.
Wie wird Armut definiert?
Der Armutsbericht basiert auf Daten des Mikrozensus, die das Statistische Bundesamt jährlich erhebt. Als "arm" gelten demnach Personen, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens erhalten. Bei allein lebenden Personen wären das 15.000 Euro im Jahr, bei einer Familie mit zwei Kindern liegt die Grenze bei 31.500 Euro.
Wie man den Begriff der Armut in einer Wohlstandsgesellschaft definiert, wird immer wieder diskutiert, vor allem auch angesichts Millionen hungernder Menschen auf der Welt. Laut Europäischer Kommission ist die Armutsgrenze nicht auf das "absolute Minimum zum physischen Überleben reduziert". Es gehe vielmehr um den Abstand zum mittleren Lebensstandard und darum, dass man von der materiellen, kulturellen und sozialen Lebensweise ausgeschlossen ist, die im jeweiligen Land als Minimum annehmbar ist.
Corona und Inflation: Armut wird größer
Besonders die Pandemie sowie der Umgang der Politik damit hätten die Armut noch vergrößert. Die Hilfspakete der Bundesregierung waren in der Pandemie vor allem auf Beschäftigte und Selbstständige ausgerichtet. Für Personen, die bereits in Armut lebten oder Hartz IV bezögen, hätte es wenig Hilfe gegeben, so der Paritätische Wohlfahrtsverband.
Im Frühjahr 2021 hatte sich die Große Koalition auf eine Einmalzahlung von 150 Euro geeinigt. Auch Entlastungsprogramme gegen die Inflation wurden aufgelegt - allerdings einkommensabhängig: Je mehr man verdient, desto höher die Hilfe.
"Wer Armut bekämpfen will, muss den Reichtum antasten"
Die Bundesregierung hätte laut Paritätischem Wohlfahrtsverband die Entlastungsmaßnahmen auf die Personen konzentrieren müssen, die durch die Inflation besonders belastet und in Not sind. Neben dem Wohngeld hätten unter anderem auch das Niveau von Hartz IV und der Altersgrundsicherung, aber auch das BAföG deutlich angehoben werden müssen, so der Verband: Die Richtschnur müsste lauten: Nicht wenig Hilfe für alle, sondern ausreichende Hilfe für die, die sie brauchen. "Eine künftige Sozialpolitik muss dauerhaft die ökonomische Situation der prekären Haushalte stärken, um diese Gesellschaft als Ganze krisenresilienter zu machen", hieß es in einer Mitteilung des Verbandes.
Auch der Armutsforscher Christopher Butterwegge warnt vor einer Spaltung der Gesellschaft und einem immer größer werdenden Abstand zwischen Arm und Reich. Die ausgeprägte Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung sei "Gift für die Demokratie", sagte er dem Magazin "Cicero". Butterwegge plädiert für eine grundsätzliche Umverteilung mittels erhöhter Steuern und Abgaben für Besserverdiener: "Wer Armut bekämpfen will, muss Reichtum antasten", sagte er.
Im Ruhrgebiet leben 1,3 Millionen Menschen in Armut
Der Armutsbericht liefert Daten bis in die kommunale Ebene. In NRW zeigen sich dabei regional große Unterschiede.
In Münster liegt die Armutsquote bei 15 Prozent und ist damit am niedrigsten. In Paderborn und Aachen sind 19 Prozent betroffen. Im Ruhrgebiet ist die Armutsquote dagegen besonders hoch. In Dortmund, Bochum, Hagen, Duisburg und Essen liegt sie bei etwa 22 Prozent. Mit über 5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern ist das Ruhrgebiet der größte Ballungsraum Deutschlands. 1,3 Millionen Menschen leben hier in Armut.
Davon beziehen besonders viele Menschen Hartz IV. In Städten wie Duisburg, Essen und Herne liegt die Quote bei über 18 Prozent. In Gelsenkirchen lebt sogar jede vierte Person von Hartz IV. Das trifft vor allem auch auf Kinder zu, deren Familien staatliche Hilfe beziehen.