2. April 1945, gegen 15 Uhr: Amerikanische Truppen erreichen das "Stalag 326" bei Stukenbrock in der Senne, rund 20 Kilometer südöstlich von Bielefeld. Als die US-Panzer auf das Gelände rollen, ist das Kriegsgefangenenlager bereits weitgehend unter Kontrolle der knapp 9.000 Häftlinge, die vorwiegend aus der Sowjetunion stammen. Die deutschen Wachen haben sich kurz vor der Ankunft der Amerikaner auf den Wachtürmen verbarrikadiert - aus Angst, gelyncht zu werden. Nun geben sie ihre Waffen kampflos ab.
Neben dem Jubel der Gefangenen erleben die amerikanischen Soldaten auch entsetzliche Szenen: "Sie beobachteten, wie ein vor Hunger wahnsinniger Mob eine Lebensmittelbaracke verwüstete", schreibt der amerikanische Kriegsberichterstatter John M. Mecklin, der etwa drei Stunden nach Einnahme des Lagers vor Ort ist. "Sie sahen, wie die Leute einander an die Gurgel fuhren wegen einer Handvoll Mehl, das im Dreck verstreut war." Seit drei Jahren seien durchschnittlich 15 bis 20 Männer täglich an Hunger gestorben, so Mecklin. "Es ist ein Ort voll von Dreck und Elend, so verkommen, dass einige von unserer Truppe sich erbrechen mussten."
Hitler: "Es ist ein Vernichtungskampf"
Die menschenverachtende Behandlung russischer Kriegsgefangener hat System. Schon Monate vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 macht Adolf Hitler vor Generälen der Wehrmacht klar, welchen Charakter der Feldzug haben soll: "Wir müssen vom Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad! Es handelt sich um einen Vernichtungskampf." Für die zu erwartenden russischen Kriegsgefangenen werden im Deutschen Reich vorab spezielle Lager eingerichtet, die der Wehrmacht unterstehen. Bereits im Mai 1941 wird zu diesem Zweck auf dem Truppenübungsplatz Senne ein Gelände eingezäunt. Die Grundfläche des "Stalag 326", eine Abkürzung von "Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlager 326 (VI K) Senne", entspricht später etwa 57 Fußballfeldern.
Die ersten beiden Transporte mit rund 4.000 Männern treffen am 10. Juli 1941 in der Senne ein. Am selben Tag erscheint im "Westfälischen Volksblatt" ein Artikel über "bolschewistisches Untermenschentum in deutscher Gefangenschaft". Darin werden die Ankömmlinge als "das Primitivste und Niedrigste" bezeichnet, "das zur weißen Rasse zählt." Das weckt offenbar Neugier: An den folgenden Wochenenden strömen von den umliegenden Dörfern, aber auch aus Bielefeld und Paderborn zahlreiche Schaulustige, die sich an den Stacheldrahtzaun stellen.
Unzureichende Ernährung, fehlende Hygiene
In der Anfangszeit ist das "Russenlager" problemlos einsehbar: Es besteht nur aus einem leeren Feld mit wenigen jungen Tannen. Die Bäume werden von den Gefangenen sofort für den Bau von Laub- und Erdhütten genutzt. Da die Zweige nicht für alle reichen, graben sie auch Erdhöhlen. Der Sandboden ist jedoch instabil, viele ersticken beim Einsturz der Konstruktionen. Diese Unterbringung verstößt gegen die Genfer Konvention von 1929 zur Behandlung von Kriegsgefangenen. Auch als die Häftlinge gegen Ende 1941 Baracken aufstellen müssen, verbessert sich die Situation aufgrund der starken Überbelegung nur unwesentlich.
Im Sommer 1941 gibt es zu wenige Feldküchen, um für alle Gefangenen zu kochen. Die meisten müssen selbst für warme Mahlzeiten sorgen. Die Verpflegung bleibt bis zur Befreiung des Lagers unzulänglich: Die bewusst knappgehaltenen Rationen reichen nicht aus. Die Gefangenen essen darum auch Gras, Laub und Baumrinde. Gleichzeitig sind die hygienischen Verhältnisse katastrophal, weil eine Abwasserleitung fehlt. Das wirkt sich auf die Gesundheit aus: Unter den geschwächten Kriegsgefangenen bricht bereits Anfang August 1941 eine Ruhrepidemie aus. Sie sterben reihenweise.
"Ausgesonderte" werden im KZ Buchenwald exekutiert
Kaum ebben die Ruhr-Erkrankungen ab, treten die ersten Fleckfieberfälle auf. Diese Seuche wird durch Läuse übertragen. Da zunächst eine Entlausungsanlage fehlt, müssen die Gefangenen ihre Kleidung selbst nach den Tieren durchsuchen. Ab Mitte 1942 rafft als dritte Seuche die Tuberkulose Tausende dahin. Unmittelbar lebensbedrohlich ist für die sowjetischen Häftlinge auch die "Aussonderung": Schon im Frühjahr 1941 hat sich die Wehrmacht mit der SS darauf verständigt, dass politische Offiziere der Roten Armee umgebracht werden sollen. Auch das "Stalag 326" wird von SS-Einsatzkommandos nach angeblich "politisch unzuverlässigen Elementen" durchkämmt. Aus der Senne werden schätzungsweise 5.000 bis 6.000 "Ausgesonderte" in das KZ Buchenwald transportiert, wo es eine Genickschussanlage gibt.
Doch auch wer im "Stalag 326" verbleibt, ist in Todesgefahr. Den Bewachern ist im Herbst 1941 ein "Merkblatt" des Oberkommandos der Wehrmacht ausgehändigt worden. Darin wird "bei den geringsten Anzeichen" von Ungehorsam "rücksichtloses Durchgreifen" und schonungsloser Waffengebrauch angeordnet. Fluchtversuche scheitern regelmäßig. Vereinzelte Angriffe von Gefangenen auf Deutsche enden mit Exekutionen. Sowjetischen Ärzten und Sanitätern, die sich ab 1943 zu einer Widerstandsorganisation zusammenschließen, gelingt es aber immer wieder, auch leicht kranke oder gesunde Mitgefangene im Lagerlazarett unterzubringen und so deren Leben zu erhalten.
Sklavenarbeit im Ruhr-Bergbau
Im Frühsommer 1942 bittet die Reichsvereinigung Kohle, ein Zusammenschluss der Kohleindustrie, bei der Wehrmacht um sowjetische Soldaten für den Ruhr-Bergbau. Sie sollen mit ihrer Arbeitskraft die Kriegswirtschaft aufrechterhalten. Das "Stalag 326" wird als zentrales Ausleselager vorgeschlagen: Ab Herbst 1942 werden die als bergbautauglich befundenen Rotarmisten an das "Stalag Hemer" weitergeleitet, das nun deren Einsatz koordiniert. Insgesamt durchlaufen bis Kriegsende etwa 310.000 sowjetische Gefangene das "Stalag" bei Stukenbrock. Für viele bedeutet die harte Arbeit in den Ruhr-Bergwerken der Tod.
Auch in Ostwestfalen-Lippe müssen Kriegsgefangene ab September 1942 Sklavenarbeit leisten. Auftraggeber sind unter anderem mittelständische Betriebe, Gemeinden, die Forstverwaltung und Bauern. Nun ist das "Stalag 326" für sämtliche in dieser Region eingesetzten Häftlinge zuständig, also auch für jene anderer Nationen. Im Lager werden zusätzlich Franzosen, Serben, Polen und Belgier untergebracht - ab Dezember 1943 auch Italiener.
Rücktransporte ins Reichsinnere
Mitte August 1944 treffen im "Stalag 326" die ersten Transporte aus aufgelösten Kriegsgefangenlagern im Osten ein. Denn die Front rückt allmählich näher, die Rote Armee drängt die Wehrmacht immer weiter zurück. Ab Januar 1945 dient das "Stalag 326" auch als Auffanglager für sowjetische Kriegsgefangene, die aufgrund des westalliierten Vormarsches aus dem Rheinland und dem Ruhrgebiet evakuiert werden. Viele von ihnen werden nach kurzem Aufenthalt weiter zu Fuß in Richtung Mitteldeutschland getrieben. Auch deutsche Militärs machen auf ihrem Rückzug aus dem Westen Station im "Stalag 326". Die letzten von ihnen verlassen am 2. April 1945 um fünf Uhr morgens das Lager in Richtung Osten.
Wenige Stunden später treffen die ersten US-Truppen im "Stalag 326" ein. "Es war bis an seine Grenzen ausgelastet mit 8.500 Russen und 110 Franzosen", schreibt US-Kriegsberichterstatter Mecklin. "Fast 4.000 der Russen sind an Seuchen, nicht verheilenden Wunden oder Unterernährung erkrankt." Außer den Überlebenden finden die Amerikaner auch 36 Massengräber vor, die jeweils 112 Meter lang sind. Wie viele Leichen darin verscharrt worden sind, ist bis heute nicht bekannt. Es sollen allein 65.000 tote Rotarmisten sein.