Die Zeiten, als Deutschland ein leuchtendes Beispiel für die Bewältigung der Corona-Pandemie war, sind vorbei. Die Infektionszahlen steigen, die Impfquote hat sich bei rund 61 Prozent eingependelt, 28 Millionen sind ungeimpft. Am Sonntag wurde die niedrigste Zahl an Impfungen seit Anfang Februar registriert.
Nun bringt die Politik eine Anreize-Strategie in die Diskussion, um Impf-Skeptiker durch Geldprämien oder Krankenkassen-Rabatte zu motivieren. Der Philosoph Martin Booms, Direktor der Akademie für Sozialethik und Öffentliche Kultur in Bonn, hält das im Gespräch mit dem WDR nicht für zielführend.
WDR: Die Zahl der Impfungen ist seit Juni massiv eingebrochen. Warum stockt es?
Martin Booms: Ungefähr fünf Prozent der Bevölkerung kann aktuell nicht geimpft werden - etwa die Gruppe der Unter-Zwölfjährigen und auch diejenigen, die genesen sind. Es ist wichtig, diese Zahlen in den Kontext zu stellen. Der Impf-Fortschritt hat sich verringert, aber wir haben eben insgesamt auch weniger Personen, die geimpft werden können. Insofern ist eine gewisse Verzögerung normal. Ich mache mir aktuell keine Sorgen.
WDR: Wie bewerten Sie diskutierte Anreize wie Impf-Prämien oder Krankenkassen-Rabatte?
Booms: Ich glaube, wer einen Hundert-Euro-Schein an die Impfspritze heftet als Anreiz, macht im Grunde eine Art Impf-Prostitution. Wir müssen Menschen überzeugen, dass sie diese Impfung machen, dass sie sinnvoll ist. Wir können es nicht mit Geldanreizen machen - das ist im Grunde genommen eine pervertierte Anreize-Struktur.
WDR: Mal ein wenig wertend gefragt: Warum traut sich die Politik nicht, solidarisch Geimpfte besserzustellen als unsolidarisch Nicht-Geimpfte?
Booms: Ich bin gar nicht sicher, dass das ein Thema von Solidarität oder Unsolidarität ist. Menschen, die zögern, sich impfen zu lassen, haben in der Regel einen Zweifel, die haben Ängste. Es sind natürlich unbegründete Ängste, aber die muss man aufklären. Wir werden eine bessere Impfquote nicht erreichen, indem wir diese Gruppe stigmatisieren und moralisch in eine Ecke stellen. Das ist eine gefährliche Tendenz, die wir schon zu häufig in der Pandemie-Bekämpfung gesehen haben.
WDR: Braucht es nicht etwas mehr Druck? Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet hat sich erstaunlich offen zu einer Impf-Auskunftspflicht von Unternehmensmitarbeitern geäußert - wenn auch zu einer behutsamen.
Booms: Es ist sicherlich keine konsequente Linie, die hier beschrieben wird. Das ist so weichgezeichnet, dass man am Ende keine konkrete politische Maßnahme davon ableiten kann. Es ist sicherlich grundsätzlich das Problem, das wir aktuell in der Politik sehen: zu viel Weichzeichnung, obwohl die Menschen ja eine klare Ansage von der Politik durchaus wollen.
Ich glaube auch, dass es mit Druck bei der Impf-Frage nicht getan ist. Das Gefühl, gegängelt zu werden von der Politik, ist stark vertreten in der Bevölkerung. Und ich glaube, dass diese Strategie von oben herab, es mit Vorschriften zu machen, am Ende nicht weiter fruchten wird.
WDR: Wird nach der Bundestagswahl alles besser?
Booms: Ich glaube, wir müssen uns darauf einstellen, dass auch nach der Bundestagswahl große, durchgreifende Entscheidungen nicht zu erwarten sind. Wir werden voraussichtlich eine schwierige Phase der Regierungsbildung bekommen. Deshalb ist von der Bundespolitik erst einmal nicht viel zu erwarten.
Und wir leben in einer freiheitlichen, liberalen Gesellschaftsordnung. Wir müssen uns klarmachen, dass man in einer solchen Gesellschaftsordnung immer Abstriche machen muss, was die Effizienz von Maßnahmen angeht. Das ist in anderen Politikbereichen ähnlich, etwa in der Terrorbekämpfung. Natürlich könnte man auch hier mit strikteren Maßnahmen - Abhörbefugnissen, Datenzugriffen und so weiter - bessere Ergebnisse erzielen. Wir müssen es aber austarieren gegen diese liberale, freiheitliche Kultur, die wir ja haben wollen und die ein hohes Gut ist.
Das Interview führte Jan Gall.